Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
und Tess, Mann und Frau. Ich bin sicher, daß es eine ähnliche Verbindung nie zuvor gegeben hat – zumindest keine, die dokumentiert ist.«
    »Und?« Aura wußte jetzt, worauf er hinauswollte, doch immer noch sträubte sie sich dagegen.
    »Irgend etwas wird aus der Begegnung der beiden entstehen«, sagte Christopher, und seine Augen leuchteten bei diesen Worten.
    »Etwas Wunderbares, etwas Unvorhergesehenes. Irgendeine völlig neue Kraft.« Er beugte sich vor und sah Aura geradewegs in die Augen. »Und es beginnt damit, daß Tess mit einem Mal Dinge weiß, die sie nach den Gesetzen der Vernunft gar nicht wissen kann.«
    Viel später, nachdem das Feuer im Kamin heruntergebrannt war, verließen sie das Herrenzimmer, um in den verbleibenden Stunden bis zum Morgen ein wenig Schlaf zu finden. Aura war längst nicht überzeugt von Christophers wildem Gedankengespinst, und nach außen hin weigerte sie sich, es auch nur als Möglichkeit anzuerkennen. Doch tief in ihrem Inneren wuchs der Verdacht, daß die Ahnungen ihres Stiefbruders begründet waren.
    Während sie die Marmorstufen des östlichen Treppenhauses hinaufstiegen, sagte Aura: »Gian träumt manchmal schlecht. Auch tagsüber. Es ist, als hätte er Visionen.«
    »Visionen wovon?« fragte Christopher.
    »Manches hat mit dem Schloß zu tun. Erinnerst du dich noch an das Gemälde in Lysanders Halle?«
    »Das auf der Tür? Schloß Institoris in Ruinen?« Aura nickte. »Gian hat ähnliche Bilder gesehen, in seinem Kopf. Er hat sie mir genau beschrieben. Aber ich glaube, daß das, was er sieht, keine Ruinen sind – es ist eine Art Baustelle. Er sieht, wie dieses Schloß auf den Fundamenten der alten Piratenfestung errichtet wurde.«
    »Jungen träumen manchmal von Piraten.«
    »Nein«, erwiderte sie entschieden. Ihre Schritte hallten durch das steinerne Treppenhaus. »Es sind nicht die Piraten. Es sind unsere Vorfahren. Die Ahnen der Familie Institoris. Aber das ist noch nicht alles: Manchmal sieht er Ritter in einer alten Festung, in weißen Gewändern mit aufgenähten roten Kreuzen.«
    »Kreuzritter?«
    »Templer. Und in ihrer Festung hat er etwas gesehen, das er für eine Küche hält, aber ich glaube, in Wahrheit ist es –«
    »Ein Alchimistenlabor«, führte er ihren Satz zu Ende.
    »Ja.«
    »Aber das bestätigt doch, was ich eben gesagt habe!« Sie blieben auf dem Absatz des ersten Stockwerks stehen. »Es ist, als sähe Gian Ereignisse, die anderen widerfahren sind.
    Seinen Vorfahren. Und es würde zu dem passen, was Tess gesagt hat. Ihre Großmutter ahnt immerhin, was mit Friedrich geschehen ist, ganz abgesehen von Lysander, der es ganz genau wußte.« Ihre Blicke kreuzten sich, und in beiden spiegelte sich die gleiche verrückte Vermutung. »Glaubst du«, fragte Christopher, »es ist möglich, daß sowohl Tess als auch Gian bestimmte Dinge sehen, Dinge wissen, die sie von ihren Ahnen geerbt haben – so wie die Haarfarbe oder die Form der Nase?«
    »Vererbtes Wissen?«
    »Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, bestimmte Bilder und Erinnerungen sind im Erbgut der Menschen verankert und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Gewisse Umstände können dazu führen, daß man sich schlagartig daran erinnert, obwohl man es selbst nie erlebt hat.« Christopher lehnte sich gegen das steinerne Treppengeländer. »Viele werten solche Erinnerungen als Beweis für ein früheres Leben, für die Wiedergeburt. Aber wenn das ein Irrtum wäre, wenn es nicht ihre eigenen Erinnerungen wären, die sie sehen, sondern die ihrer Vorfahren …«
    Aura starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Du glaubst, die Begegnung mit Gian hat dieses Wissen in Tess auf irgendeine Weise freigesetzt?«
    Christopher strich sich über den stoppelhaarigen Hinterkopf.
    »Wir müssen abwarten, wie Gian reagiert. Ob seine Visionen intensiver werden.«
    Auras Mund war trocken, und ihre Müdigkeit machte es ihr schwer, überhaupt noch einen klaren Gedanken zu fassen. »Laß uns morgen weiterreden. Du kannst in deinem alten Zimmer schlafen. Es ist jetzt ein Gästezimmer, aber es hat sich nicht viel geändert.«
    Er lächelte scheu und nickte. »Danke.«
    »Für das Zimmer?«
    »Nein, für alles. Für deine Freundschaft.«
    Als er davonging, mußte sie wieder an das denken, was Gillian zu ihr gesagt hatte, damals in dem kleinen Hotelzimmer in Wien: Wenn du mit der gleichen Kraft haßt, mit der du vergibst, dann gnade Gott deinen Feinden. Als sie die Stufen zum zweiten Stock hinaufstieg

Weitere Kostenlose Bücher