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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sogar Bären, und am Himmel kreisten Steinadler und einmal gar ein Geier.
    Zum ersten Mal vergaß Aura für kurze Zeit den Grund ihrer Reise und die Schrecken, die sie an ihrem Ziel erwarten mochten. Fasziniert entdeckte sie uralte Bauernhöfe wie aus Dürer-Stichen, beobachtete Ochsengespanne und Pferdekarren, gewaltige Schafherden mit ihren kauzigen, in Fellmäntel gehüllten Hirten. Auf den Dorfstraßen lief das Kleinvieh noch frei umher, die Wege waren ungepflastert, und das Wasser wurde wie eh und je aus Brunnen und Bächen geschöpft.
    Anhand der Menschen, die an den winzigen Bahnhöfen ein- und ausstiegen, konnte sie erkennen, wie weit sie sich bereits von ihrer Heimat entfernt hatte. Nicht wenige der Männer und Frauen, selbst die Ärmsten unter ihnen, trugen Trachten, die wertvoll und exotisch wirkten. Weiß und Schwarz schienen die beliebtesten Farben zu sein, doch jedes dieser Kleidungsstücke war kunterbunt bestickt. Vom jungen Mädchen bis zur Greisin trugen die Frauen Kopftücher, die bis weit über ihre Schultern reichten. Aura, die ihr Haar nur lässig hochgesteckt hatte, erntete geringschätzige Blicke; sogar die Männer betrachteten ihre offenkundige Schönheit mit Mißfallen. Schließlich riet Christopher ihr besorgt, ebenfalls ein Tuch zu tragen, was sie zögernd und lustlos tat.
    Die Kontrolleure an der Grenze nach Rumänien, schweigsame, schnauzbärtige Männer mit schwarzem Haar und finsteren Blicken, betrachteten vor allem Christophers Papiere mit offenem Argwohn. Er hatte sich daheim im winzigen Rathaus des Dorfes einen neuen Ausweis ausstellen lassen; die Nachricht, daß er in Wien angeblich verstorben war, war noch nicht bis dorthin vorgedrungen. Jetzt jedoch hatte er beinahe die Befürchtung, die rumänischen Grenzbeamten würden ihn durchschauen, so viel Mißtrauen sprach aus ihrem Gebaren. Endlich aber gaben sie ihm die Papiere zurück und gingen weiter zum nächsten Abteil.
    Jenseits der Grenzstadt Sinaja führten die Schienen von den Höhen der Karpaten hinab ins rumänische Tiefland. Einen halben Tag später erreichten sie Bukarest. Von hier aus gab es nur eine einzige Bahnverbindung, die weiter nach Osten führte, nach Konstanza, einer Hafenstadt am Westufer des Schwarzen Meeres. Der Zug dorthin fuhr nur alle zwei Tage, und erneut mußten sie eine zusätzliche Übernachtung in Kauf nehmen. Aura hatte ein wenig Geld in rumänische Landeswährung umgetauscht, doch der Betrag erwies sich nun als zu gering. Der Besitzer des kleinen Hotels fragte sie mit reptilienhaftem Lächeln, ob sie denn Geld aus ihrer Heimat bei sich führe. Als Aura bejahte, wurde er sogleich viel freundlicher und erklärte ihr, rund um das Schwarze Meer sei deutsche, britische oder amerikanische Währung viel lieber gesehen als die eigene. Daraufhin fürchteten Aura und Christopher, daß man wohl versuchen werde, sie in der Nacht in ihrem Hotelzimmer auszurauben. Doch ihre Ängste erwiesen sich als unbegründet, und als sie sich am Morgen vom Hotelier und seiner Frau verabschiedeten, plagte Aura ein schlechtes Gewissen.
    Der Zug zum Meer hielt alle paar Minuten an irgendeinem Dorfbahnhof, was dazu führte, daß sie für die zweihundert Kilometer bis zur Küste einen ganzen Tag benötigten. Der Hotelier war der letzte Mensch gewesen, der ihre Sprache verstanden hatte; weiter östlich redete keiner ein Wort Deutsch, was zur Folge hatte, daß sie jedes Flüstern und jedes Kichern der übrigen Reisenden auf sich bezogen. Ständig fühlten sie sich tausend Blicken ausgesetzt, sahen sich als Ziel von Spott und Beleidigungen. Es dauerte bis zum Abend, ehe ihnen klar wurde, daß sie viel weniger Aufsehen erregten, als sie vermutet hatten, denn Konstanzas Hafen war der wichtigste weit und breit, und Ausländer gehörten hier zum Stadtbild.
    Eine heruntergekommene Droschke brachte sie zum Hafen, wo schlanke Masten und die Schlote der Dampfschiffe einen undurchdringlichen Wald aus Holz und Eisen bildeten. Bereits von Bukarest aus hatte Aura telegraphisch zwei Plätze für die Überfahrt gebucht. Freilich hatte sie nicht ernsthaft damit gerechnet, daß ihr Einschiffen reibungslos verlaufen würde. Um so erstaunter war sie nun, als der Kapitän sie mit Handschlag begrüßte und in makellosem Deutsch seine Hoffnung auf gutes Wetter zum Ausdruck brachte.
    Der Name des Schiffes war Wojwodina, die Kabine, die man ihnen zuwies, winzig, aber reinlich. Wie sich herausstellte, hatte der Kapitän die beiden bereits erwartet und die

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