Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
offen.«
»Zum Beispiel, warum Lysander mit Sylvette ein Kind gezeugt hat?«
»Auch das. Aber da ist noch etwas anderes.« Aura blickte an Christopher vorbei zum Bug. Grau und aufgewühlt erstreckte sich dort das Meer bis zum Horizont. Irgendwo dahinter, unsichtbar in der dunstigen Ferne, lag Swanetien.
»Die Frage ist doch«, sagte sie gedankenverloren, »warum ist Sylvette noch immer bei ihm? Weil Lysander sie zwingt – oder weil sie es so will?«
KAPITEL 5
Das Unwetter tobte bis in die frühen Abendstunden. Schwarze Wolkenburgen waren wie Belagerungstürme rund um das Schloß heraufgezogen, Blitz und Donner rannten Sturm gegen die alten Mauern. Schließlich aber, nachdem erst der Regen und dann der peitschende Wind nachgelassen hatte, wurde es ruhiger. Die Blitze blieben aus, der Donner verstummte. Allein die Dunkelheit wollte nicht weichen, denn nach dem Orkan kam die Nacht über das Küstenland.
Am frühen Morgen, im Schutz des Unwetters, war Gillian mit einem Boot zur Insel gerudert. Unzählige Male hatte er auf der kurzen Strecke befürchtet, der Sturm würde ihn hinaus aufs Meer treiben, doch immer wieder war er diesem Schicksal um Haaresbreite entronnen. Fast zwei Stunden hatte er gebraucht, bis er die Insel erreichte, durchnäßt, erschöpft und erbärmlich erkältet. Der Aufstieg zum Dach gab ihm beinahe den Rest, denn eine Sturmböe warf ihn aus zwei Metern Höhe zurück auf die Felsen. Dennoch gab er sich nicht geschlagen, versuchte es vorsichtig noch einmal und erreichte trotz aller Widrigkeiten die schmale Balustrade. Im Gegensatz zu damals, vor sieben Jahren, als er das Schloß schon einmal auf diesem Weg betreten hatte, war die Glastür von innen verriegelt. Gillian schlug sie kurzerhand ein und stieg durch die Scherben ins Innere. Das Klirren ging im Heulen des Unwetters unter.
Jetzt, Stunden später, erkannte er, daß alles, was er auf dem Weg hierher durchgemacht hatte, keinem Vergleich standhielt zur größten Herausforderung von allen. Er mußte einen kleinen Jungen davon überzeugen, daß er,
Gillian, sein Vater war.
»Schau zurück in deine Erinnerungen – meine Erinnerungen –, und du wirst sehen, daß ich die Wahrheit sage.« Gillian hatte in den vergangenen sieben Jahren vieles erfahren, vor allem über sich selbst, und er wußte, über welche Fähigkeiten ein Kind der Alchimie verfügte. Wußte es, weil er selbst eines war.
»Ich kann nicht«, sagte der Junge trotzig. »Es geht nur, wenn Tess bei mir ist.«
»Das ist nicht wahr.« Gillian ließ sich mit betonter Ruhe auf dem Sofa nieder. »Du kannst es auch ohne sie. Du mußte es nur versuchen.«
Gian sträubte sich weiter. Gillian mußte einsehen, daß sein Sohn nicht nur Auras schwarzes Haar, sondern auch ihren Dickkopf geerbt hatte.
»Bitte«, sagte er noch einmal, »probier es wenigstens.« Doch noch während er sprach, begann er plötzlich zu begreifen: Der Junge beharrte auf Tess’ Anwesenheit, weil er erreichen wollte, daß Gillian sie aus Charlottes Gewalt befreite.
Vorsichtig sagte er: »Wenn es dir nur um deine Freundin geht, kann ich dich beruhigen – spätestens in ein, zwei Stunden ist sie wieder bei dir. Sobald die letzten Diener schlafen gegangen sind, hole ich sie da raus.«
Er stand auf, trat auf den Jungen zu und reichte ihm seine Hand.
»Du Schlauberger hast mich doch längst erkannt, nicht wahr?«
Gians Gesicht hellte sich unmerklich auf, als müsse er ein Lächeln unterdrücken. Dann nickte er bedächtig.
»Willst du mich nicht wenigstens begrüßen?«
Gians gespielter Widerwillen schwand, doch ganz gab er seine Zurückhaltung nicht auf. Zögernd streckte er seinem Vater die kleine Hand entgegen. Gillian ergriff sie und überlegte, ob er ihn umarmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vater hin oder her – für den Jungen blieb er zwangsläufig ein Fremder. Das beste war, wenn er einfach tat, was zu tun war, und dann wieder aus dem Leben des Kindes verschwand. So, wie er damals aus Auras Leben verschwunden war.
Gillian ließ sich neben dem Jungen auf der Armlehne des Sessels nieder und blickte ihn ernsthaft an. »Erzähl mir mal genau, was heute geschehen ist.«
Das meiste wußte er bereits. Er war den ganzen Tag über unbemerkt durchs Schloß geschlichen (die Speichertür hatte er mit einem Dietrich geöffnet und wieder verschlossen), hatte die Dienerschaft belauscht und zusehen müssen, wie Charlotte das Mädchen verschleppte. Dennoch wollte er den Ablauf noch einmal aus Gians Munde
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