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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Kinder eine Weile allein und setzte sich an einen Tisch, um den Brief für Aura zu schreiben. Er beschränkte sich auf wenige sachliche Sätze und schloß mit dem Hinweis, wo und wie sie mit ihm und den Kindern in Kontakt treten könne. Wie er sie einschätzte, würde sie sogleich dorthin aufbrechen, und er mußte sich eingestehen, daß das sein größter Wunsch war.
    Während der vergangenen sieben Jahre war er dreimal hier im Schloß gewesen. Er hatte beobachtet, zugehört und sein schlechtes Gewissen besänftigt. Nie jedoch hatte er sich zu erkennen gegeben. Die Wachmänner, die Aura eine Weile lang angestellt hatte, waren kein Problem gewesen. Einmal hatte er sich ganze zwei Tage im Schloß aufgehalten, ohne daß ihn irgend jemand bemerkte. Es hatte wehgetan, Aura bei ihrem täglichen Leben zuzuschauen, ohne daran teilhaben zu können. Doch das verbot ihm der Eid, den er geschworen hatte.
    Jetzt erst, nach sieben Jahren, war seine Lehrzeit beendet. Wenn sie sich wiedersahen, durfte er mit ihr sprechen, sie sogar umarmen – vorausgesetzt, sie würde es zulassen. Für sie war er ein Toter, nicht mehr als eine vage Erinnerung an ein paar gemeinsame Tage, an ein paar Stunden in einem fernen Hotelzimmer.
    Eine Viertelstunde später, nachdem er rasch im Zimmer der Kinder warme Kleidungsstücke zusammengesucht hatte, schob Gillian die Jolle zwischen den Felsen hervor ins Wasser. Während er ruderte, saßen die Kinder schweigend im Bug. Gian schaute zurück zum Schloß, Tess voraus zum Festland.
    Nach fünf Tagen auf hoher See erhob sich am Morgen des sechsten mit dem beginnenden Tageslicht die Küste Georgiens aus dem Dunkel der Nacht. Gegen elf Uhr vormittags lief die Wojwodina in den Hafen von Suchumi ein. Der Legende nach, so erfuhren die Passagiere vom Kapitän, waren hier einst Jason und seine Argonauten gelandet, um König Aietes das Goldene Vlies und seine Tochter Medea streitig zu machen.
    Suchumi lag am Ufer einer weiten Bucht. Trotz des kühlen Windes, der seit zwei Tagen aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien, herrschte subtropisches Klima. Zum Ufer hin wurde die Stadt von einer kilometerlangen Kette aus Palmen begrenzt. Schnurgerade Hauptstraßen schnitten vom Hafen aus quer durch ein Labyrinth aus Gassen, kleinen Plätzen und verschachtelten Häuserblocks. Darüber erhob sich im Osten Suchumis ein einzelner Hügel, der Suchumskaja Gora, umgeben von einem Meer rotbrauner Dächer. Jenseits der Stadt wuchsen dichtbewaldete Hänge empor, und dahinter, in vielen Kilometern Entfernung, dräuten schroff und schneebedeckt die Gipfel des Kaukasusgebirges.
    Unbändiges Geschrei schlug ihnen entgegen, als Aura und Christopher über den schmalen Landungssteg das Schiff verließen. Mehr als zwei Dutzend Einheimische bestürmten sie mit dem Angebot, ihr Gepäck zu tragen. Tuch- und Gewürzhändler kamen von allen Seiten herbeigelaufen, gestikulierten wild und deuteten auf ihre Bauchläden. Andere priesen Schnitzwerk und Silberbecher an. Mehrere Männer bedrängten sie mit Angeboten für eine Führung durch die Stadt, einer sogar auf deutsch.
    Der Kapitän hatte ihnen ein Hotel am Hafen empfohlen, das sich bei näherer Betrachtung als winziger Gasthof erwies, dessen Wirt zwei Zimmer im ersten Stock vermietete. »Nur an Ausländer«, wie er betonte, und verschwieg dabei, daß seine Preise ohnehin für jeden Einheimischen unerschwinglich waren.
    Zumindest war das Zimmer sauber, das Essen kräftig und der Wirt ausgesprochen gefällig. Gegen ein großzügiges Trinkgeld erfuhren sie von ihm, daß vor einigen Wochen eine kleine Gruppe deutschsprachiger Reisender Träger und Lasttiere angeheuert hatte, um mit ihnen hinauf ins Gebirge zu steigen. Aura und Christopher hatten kaum Zweifel, daß es sich dabei um Lysander und seinen Troß handelte. Als Aura sich jedoch erkundigte, ob eine blonde Frau dabeigewesen war, verneinte der Wirt. »Frauen mit Goldhaar«, sagte er grinsend, »erregen bei uns großes Aufsehen.« Kurze Zeit später erfuhr Aura von Christopher, daß er Sylvette einst ein Mittel geschenkt hatte, mit dem sie ihr Haar schwarz gefärbt hatte; gut möglich, daß sie es heute noch genauso machte.
    Als sie dem Wirt erzählten, daß auch sie eine Reise ins Innere des Landes planten, hatte er sogleich die passende Führerin parat. »Ihr Name ist Marie Kaldani«, erklärte er, »und sie spricht Ihre Sprache. Sie stammt aus Uschguli, dem höchsten Ort Swanetiens. Marie kennt dort oben jeden Stein, jeden

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