Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
hören. Der Junge schilderte die Ereignisse bemerkenswert ruhig und erstaunte Gillian durch seine Wortwahl, einem Siebenjährigen ganz und gar unangemessen.
Nachdem Gillian alles erfahren hatte, was Gian über die Vorgänge wußte, erklärte er dem Jungen, daß er ihn eine Weile allein lassen müsse, um Tess zu befreien. Gian nickte eifrig, ließ seinen Vater mit dem Schlüssel hinaus und schloß rasch wieder hinter ihm ab.
So schnell und so leise er konnte eilte Gillian hinab ins Erdgeschoß. Jene Diener, die im Schloß übernachteten, hatten sich längst in ihre Zimmer zurückgezogen. Der Hermaphrodit erreichte ungestört die Eingangshalle. Nichts ließ dort auf etwas Ungewöhnliches schließen. Die Geheimtür im Kamin war geschlossen, kein Laut ertönte aus der Tiefe des Kellers. Gillians Sorge um das Mädchen wuchs.
Zunächst aber durchquerte er den Ostflügel und schlich zur Tür von Charlottes Gemächern. Im Inneren herrschte Stille. Keine Minute später stand er wieder in der dunklen Eingangshalle. Tastend fand er mit dem Schürhaken den Mechanismus der Geheimtür. Mit einem gedämpften Schleifen schob sich die Rückwand des Kamins nach oben. Gillian entzündete eine Kerze und trat über die Feuerstelle hinweg in den schmalen Treppenschacht. Im flackernden Halblicht erkannte er, daß die Stufen nach einigen Metern um eine Ecke führten. Gillian folgte ihrem Verlauf und gelangte in ein feuchtes Gewölbe. Der Boden war salzverkrustet, so als fände die See hin und wieder einen Weg dorthin. Der Keller lag unterhalb des Meeresspiegels.
Tess hockte am Fuß einer Mauer, die dicht mit schillernden Pilzen bedeckt war. Die Knie hatte sie fest an den Oberkörper gezogen. Ihr Atem war selbst aus einiger Entfernung deutlich zu hören. Mit großen Augen starrte sie Gillian entgegen, sagte aber kein Wort. Sie zuckte auch nicht zurück, als er neben ihr in die Hocke ging. Er begann, beruhigend auf sie einzureden und wollte ihr auf die Füße helfen, doch die Kleine schüttelte nur den Kopf und erhob sich aus eigener Kraft.
»Ich will dir helfen«, sagte Gillian. »Ich bin –«
»Gians Vater«, unterbrach sie ihn mit gedämpfter Stimme.
Er nickte verwundert, dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zur Treppe.
»Da unten war ein Tunnel«, flüsterte Tess. »Er führt zu einem Turm. Von da aus konnte ich das Schloß sehen.«
»Du bist ohne Licht durch einen Tunnel gelaufen?« fragte er ungläubig.
»Ja«, sagte sie ruhig. »Ich mag Tunnel gern.«
Da erinnerte er sich, daß sie in den Katakomben der Hofburg aufgewachsen war. Unterirdische Gänge, Schächte und Hallen waren ihr Zuhause gewesen. Trotzdem war die Leichtigkeit, mit der sie die Gefangenschaft hier unten verkraftet hatte, mehr als erstaunlich. Es schien fast, als habe sie seelenruhig auf ihren Befreier gewartet. War die geistige Verbindung zwischen ihr und Gian so stark, daß sie Gillians Plan gekannt hatte, noch ehe er hier unten aufgetaucht war?
Sie erreichten den oberen Absatz der Treppe. Gillian blies die Kerze aus und spähte in die Eingangshalle. Weder Charlotte noch jemand von der Dienerschaft war in der Dunkelheit auszumachen. Hand in Hand verließen sie den Kamin, ohne sich die Mühe zu machen, den Durchgang wieder hinter sich zu schließen.
Wenig später öffnete Gian ihnen die Relieftür zum Dachboden. Er strahlte erleichtert, als er Tess an Gillians Seite sah, doch beide sprachen kein Wort miteinander. Es schien, als seien Worte für ihre Verständigung überflüssig geworden. Statt dessen schauten sie abwartend zu Gillian auf, so als wüßten sie längst, was er vorhatte.
Zum ersten Mal war er wirklich verunsichert. »Wir werden zusammen eine Reise machen«, sagte er zögernd.
Gian runzelte altklug die Stirn. »Wenn meine Mutter nach Hause kommt, wird sie sich fragen, wo wir sind.«
»Wir lassen ihr einen Brief zurück, damit sie sich keine Sorgen macht.« Natürlich war Gillian klar, daß Aura sich sehr wohl Sorgen machen würde. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Sie würde ihnen folgen können, wenn sie wollte.
»Und wohin reisen wir?«
Gillian lächelte, in der Hoffnung, die Kinder zu beruhigen. »Mögt ihr die Berge?«
»Ich hab noch nie welche gesehen«, sagte Gian.
»Aber ich«, platzte Tess heraus. »Mit dem Zug sind wir an Bergen vorbeigefahren.«
»Wir werden wieder welche sehen«, versprach ihr Gillian.
Während Gian weiterhin düster dreinschaute, war Tess von der Idee sichtlich angetan. Gillian ließ
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