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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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orientalische Dämpfe einatmen und sorgt dafür, daß Lysander die Welt um sich herum wahrnimmt wie die Darbietungen einer Gauklertruppe. Alles ist künstlich, gespielt, erfunden. Das wahre Schöne trägt die Maske der Häßlichkeit, im Herzen des Grauens winkt die Vollendung. Lysander weiß jetzt, daß Morgantus ein guter Mann ist, ein Heiliger fast, immer auf der Suche nach seinem Gral, nach dem ewigen Leben, nach der höchsten Form des Seins.
    Im zweiten Jahr ihrer gemeinsamen Reise, nach einer Zeit, in der Lysander viele Freundinnen gewonnen und wieder verloren hat, beginnt Morgantus, ihm weniger Früchte zu geben als bisher. Auch die exotischen Kräuter, mit denen er die Dämpfe schuf, behält er in seiner Satteltasche. Er fragt den Jungen: »Willst du aus freiem Willen bei mir bleiben?«
    Die Rauschmittel, die Morgantus aus dem Orient mitgebracht hat, haben den Blick auf die Gegenwart verschleiert, aber sie vermögen nicht die Vergangenheit zu beschönigen. Lysander begreift schlagartig alles, was er getan hat. Und wieder findet er aus der Not heraus zurück zum Glauben. Zum ersten Mal seit vielen Monden erinnert er sich wieder an seine Mutter. Er weiß, er wird ihr nie vor die Augen treten können, auch nicht im Leben danach, wo alles rein und schön und herrlich ist. Er beginnt zu fürchten, Gott könne ihm seine Sünden vergeben und ihn mit seiner Mutter vereinen – das aber darf niemals geschehen! Nicht nach der Schande, die er auf sich geladen hat! Ihm wird klar, daß er weitere Sünden begehen muß, um seinen Platz im Inferno zu sichern, weit, weit entfernt von seiner Mutter. Am besten wäre gar, sein irdisches Leben würde ewig währen.
    Nach all diesen Überlegungen findet Lysander auf Morgantus’ Frage, ob er bei ihm bleiben wolle, die einzig mögliche Antwort.
    »Ja«, sagt er. Und mehr noch – er bittet Morgantus, auch ihm selbst das ewige Leben zu schenken. Der Ritter willigt ein.
    Nun sind sie wahre Gefährten. Ein Ziel, kein Gewissen. Sie sind eins.
    Ein merkwürdiger Junge tritt in Erscheinung. Sein Name ist Nestor. Er ist ein Jünger Gottes und lebt in einem Kloster, das Morgantus und Lysander auf ihrem Weg passieren. Das Mädchen, das Nestor liebte, war eines von Morgantus’ Opfern. Zudem zeigt er verdächtiges Interesse an den beiden Fremden. Grund genug, findet Lysander, den Jungen zu beseitigen.
    Aber Morgantus ist anderer Ansicht. Als Nestor bittet, an der Seite des Ritters reisen zu dürfen, willigt Morgantus ein. Lysander erklärt seinen Meister insgeheim für verrückt. Zum ersten Mal rührt sich in ihm ein Verdacht: Vielleicht ist Morgantus nicht richtig im Kopf, vielleicht hat er längst den Verstand verloren!
    Sein nächster Gedanke ist Eifersucht. Soll Nestor etwa ihn, Lysander, ersetzen? Plant Morgantus, seinen treuen Gefolgsmann zweier Jahre davonzujagen oder, schlimmer noch, zu töten? Lysander beschließt, fortan sehr wachsam zu sein.
    Nestor versteht sich hervorragend auf das Finden, Erkennen und Mischen von Kräutern. Das muß sogar Lysander eingestehen. Allmählich glaubt er nicht mehr, daß ihm durch Nestor eine Gefahr droht. Sicher, der einstige Mönch macht kein Geheimnis daraus, daß er Lysander ablehnt, doch Morgantus gibt keinem von beiden den Vorzug. Kommt es zum Streit, sind die Entscheidungen des Ritters immer weise und gerecht. Lysander beginnt, sich mit der neuen Lage und dem neuen Gefährten abzufinden.
    Die Reise geht weiter. Ein irrwitziger Taumel aus Mädchen und Blut.
    Seit einem Jahr leben die drei in einem Templerkloster in den Bergen. Morgantus hat seine Reise abgebrochen, als er erkannte, daß er das Gilgamesch-Kraut nicht finden wird.
    Obwohl seine beiden Schüler sich in den Gängen und Kammern des Klosters aus dem Weg gehen und sich manchmal viele Tage lang nicht begegnen, bleibt Lysanders Vorbehalt gegen Nestor bestehen. Er fürchtet ihn nicht mehr als Verräter, wie zu Beginn ihrer Gemeinschaft, aber er spürt immer deutlicher, daß Nestor anders ist als er selbst. Lysander gilt im Kloster als verschlossen und mürrisch, aber er weiß auch, daß sich hinter diesem Schutzwall nur seine Scheu vor anderen verbirgt (die er freilich nie offen einstehen würde). Nestor dagegen ist redegewandt und bei den übrigen Templern beliebt. Und doch hegt Lysander den Verdacht, daß das Herz im Inneren dieser lebhaften Schale längst abgestorben ist. Wann aber ist das geschehen? Als er zum ersten Mal mit Morgantus’ Forschungen konfrontiert wurde? Oder noch eher,

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