Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
er aus seiner Betäubung. Die Männer schleppen ihn vor ein Tribunal aus Vorsteher, Priester und Dorfältestem. Alle sind sich einig, daß die böse Saat seiner Mutter endgültig in ihm herangereift ist. Der beste Beweis dafür sei, daß er versucht habe, ein reines, tugendhaftes Mädchen ins Verderben zu reißen.
Da begreift Lysander, daß Nive ihren Eltern erzählt haben muß, was vorgefallen ist. Doch als er sich umschaut, ist sie nirgends zu sehen. Er versucht, sie vor sich selbst zu verteidigen, redet sich ein, ihr Vater habe sie gezwungen, Schlechtes über Lysander zu sagen. Und obwohl er weiß, daß das wahrscheinlich sogar die Wahrheit ist (schließlich hat Nive geschworen, daß sie ihn gern hat), verachtet er sie für ihre Tat. Er erkennt die Lügnerin in ihr, eine Lügnerin wie die beiden Mädchen, die vor acht Jahren seine Mutter der Hexerei beschuldigt haben.
Noch einmal setzt er sich zur Wehr. Vergeblich. Die Männer binden ihn an Armen und Beinen und werfen ihn zwischen die Reisigbündel auf dem Dorfplatz. Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Pfahl inmitten des Scheiterhaufens zu errichten. Alle wollen, daß das Satanskind so schnell wie möglich zu Asche zerfällt.
Während Lysander daliegt, entdeckt er über den Dächern eine Feuerlohe. Seine Hütte brennt, die Hütte, die seine Mutter mit eigenen Händen gebaut hat, damals, als keiner der anderen ihr helfen wollte. Die Hütte, auf die sie so stolz war. Da wird Lysander wieder zum Kind, und Tränen fließen über seine Wangen. Er kann nur noch an seine Mutter denken, an die Liebe, die sie ihm geschenkt hat, an ihre Wärme und Barmherzigkeit. Ganz kurz kehrt mit diesen Empfindungen der Glaube zurück, dem er auf immer abgeschworen hatte. Er denkt: Gott wird meine Unschuld erkennen, ebenso wie er Mutters Unschuld erkannt haben muß; Seite an Seite werden wir ewig leben. Das gibt ihm Kraft und Hoffnung.
Die Männer mit den Fackeln treten vor. Das Reisig beginnt, an den Rändern zu brennen. Dicker, weißer Rauch steigt auf, hüllt Lysander ein, nimmt ihm den Atem. Es ist, als sei er bereits auf dem Weg in die Wolken, in den Himmel. Auf dem Weg in die Unsterblichkeit. Seine nächste Erinnerung ist, daß er auf einem Pferd wieder zu sich kommt. Er liegt auf dem Bauch, ein Sattelknauf sticht schmerzhaft in seine Brust. Jemand hält ihn fest, jemand, der im Sattel sitzt. Lysander erkennt ein großes rotes Kreuz auf einem blütenweißen Gewand. Ein Engel, der ihn vor die himmlischen Richter trägt.
Morgantus erzählt Lysander, daß es Gott selbst gewesen sei, der ihn den Weg durch das Dorf nehmen ließ. Der Herr habe gewollt, daß Lysander unter den Lebenden bleibe, um Morgantus bei seinem großen Werk zu Ehren Gottes beizustehen. Lysander zweifelt erst daran, doch dann beeindruckt ihn die weihevolle Rede des Ritters, und mehr noch begeistert ihn der Ritter selbst.
Morgantus ist ein großer, nicht mehr ganz junger Mann, der über Bärenkräfte verfügt. Sein Gesicht und, wie Lysander später entdeckt, auch sein Körper sind bedeckt mit Narben, die ihm die Ungläubigen im Heiligen Land geschlagen haben. Lysander ist verwundert, daß ein so starker, erfahrener Mann Schutz im Namen Gottes sucht, daß er es überhaupt nötig hat, an irgend etwas außer sich selbst zu glauben. Morgantus bemerkt die Zurückhaltung seines Schützlings und läßt durchscheinen, daß auch er zuweilen mit den Gesetzen des Herrn im Hader liege. So gewinnt er allmählich das Vertrauen des Jungen.
Nach einigen Wochen verlangt Morgantus zum ersten Mal, Lysander möge ihm ein Mädchen zuführen. Lysander erkennt entsetzt, daß der Ritter den verleumderischen Worten der Dorfbewohner Glauben geschenkt hat; er denkt tatsächlich, Lysander sei einer, der junge Mädchen verführt und von zu Hause fortlockt! Erst ist er empört, doch dann denkt er an all das Gute, das ihm durch die Hand des Ritters widerfahren ist. Er steht fraglos in der Schuld dieses Marines. Und als er schließlich ein Mädchen in die Wälder lockt, mit engelsgleichem Lächeln und falschen Liebesschwüren, da tut er das in der Annahme, Morgantus stehe der Sinn nach einem Schäferstündchen.
Wenig später weiß er, daß er sich geirrt hat.
Das Leben an der Seite des Tempelritters ist schrecklich und wunderbar zugleich. Schrecklich in den Augenblicken, da Lysander einen klaren Kopf hat; wunderbar in all der übrigen Zeit, denn Morgantus gibt ihm sonderbare Früchte zu essen, läßt ihn am Lagerfeuer
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