Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
gereinigt haben, meinen alle und sind froh, daß sie die arme Frau geläutert haben.
Später steht Lysander einsam vor der Asche des Scheiterhaufens. Es ist Nacht. Alle sind in ihren Häusern und Hütten verschwunden. Lysander weint noch immer. Er weiß, wenn er jetzt in seine Hütte zurückkehrt, wird sie leer sein. Niemand ist da, der ihn empfängt, ihn in die Arme nimmt, mit ihm betet, ihm ein Lied zum Einschlafen singt.
Lysander ist jetzt ganz allein auf der Welt.
Er ist sechs Jahre alt.
Acht Jahre später ist Lysander zum ersten Mal verliebt. Das Mädchen heißt Nive. Sie ist die Tochter des Dorfvorstehers.
Lysander lebt seit dem Tod seiner Mutter allein in der Hütte. Die übrigen Dorfbewohner meiden ihn. Mittlerweile weiß er, daß sie ihn für den Sohn des Teufels halten. Sie glauben, das Böse, das in seiner Mutter war, sei im Augenblick ihres Todes auf ihn übergegangen. Anfangs hat er das nicht verstehen können. Er hat die Nachbarn gefragt, was er ihnen denn getan habe, aber keiner hat ihm eine Antwort gegeben. Manchmal haben sie ihm etwas zu essen geschenkt, damit er sie in Ruhe läßt. Lysander hat es nicht angerührt, aus Angst, es sei vergiftet.
Nach acht Jahren Einsamkeit hat er längst gelernt, mit der Ablehnung der anderen umzugehen. Hin und wieder macht er sich sogar einen Spaß daraus. Er zieht Grimassen und ruft ihnen schlimme Worte zu. Doch wenn er wieder allein ist, weint er oft. Noch immer begreift er nicht, warum alle so schlecht von ihm denken. Er ist ebenso unschuldig wie seine Mutter, aber niemand will davon etwas hören.
Nive ist die erste, die ein freundliches Wort mit ihm wechselt. Er hat sie im Wald getroffen, als er Bucheckern gesammelt und Hasen gejagt hat. Lysander ist ein guter Jäger, obwohl er erst vierzehn ist. Nive ist nicht so schön wie ein paar von den anderen Mädchen im Dorf, doch ihre wahre Schönheit liegt in ihrer Seele. Sie empfindet Mitgefühl für den ausgestoßenen Jungen, der so allein in seiner Hütte am Dorfrand lebt. Und natürlich ist ihr nicht entgangen, wie hübsch er ist. Keiner der Jungen im Dorf kann es darin mit ihm aufnehmen. Die Nachbarn munkeln, Satan selbst habe ihm solche Schönheit geschenkt, damit er seine Mitmenschen verführen und knechten kann.
Nive sagt, sie glaube nicht an die Beschuldigungen der anderen. Sie ist sehr gottesfürchtig, aber das war Lysanders Mutter auch. Die beiden treffen sich regelmäßig heimlich im Wald, sitzen am Bach und lassen die Füße ins kalte Wasser baumeln, streifen durch duftende Frühlingswiesen, und einmal versucht Lysander gar, ihr das Jagen beizubringen. Davon aber will sie nichts wissen; sie sagt, ihr tun die armen Tiere leid. Lysander hat dafür Verständnis und jagt nie wieder, wenn sie bei ihm ist.
Nach einigen Wochen bittet er sie, mit ihm davonzulaufen. Er will für immer mit ihr zusammenbleiben, aber er weiß, daß das im Dorf unmöglich ist. Die Leute würden Nive ebenso ächten wie ihn selbst, obwohl ihr Vater der Vorsteher ist. Lysander hat längst begriffen, daß nichts solche Macht über Menschen hat wie ihr Glaube. Das Schlimme daran ist, daß jeder sich aussuchen kann, woran er glauben will. Jeder folgt Gesetzen, die er sich selbst auferlegt hat. Lysander beschließt, daß er niemals an etwas glauben will, für das es keine Beweise gibt.
An eines aber glaubt er ganz fest: an Nives Liebe. Als sie sein Angebot, mit ihm davonzulaufen, ausschlägt, ist er tagelang verzweifelt. Nive schwört, daß sie ihn sehr gern habe, aber sie liebe auch ihre Eltern. Lysander erwidert, daß es immerhin ihr Vater gewesen sei, der veranlaßt habe, daß seine Mutter verbrannt worden ist. Darüber entfacht sich ihr erster Streit. Er endet damit, daß Lysander ein böses Wort zu ihr sagt und Nive davonläuft.
Bis zum Abend streift er verstört durch die Wälder. Er ärgert sich, daß Nive so sehr an ihren Eltern hängt, aber dann begreift er, daß er vielleicht ebenso an den seinen hängen würde – vorausgesetzt, sie wären noch bei ihm. Da hat er plötzlich Verständnis und beschließt, Nive um Verzeihung zu bitten.
Als er ins Dorf zurückkehrt, ist es bereits dunkel. Auf dem Platz zwischen den Häusern brennen viele Fackeln. Männer sind dabei, einen großen Haufen aus Holz und Reisig aufzuschichten. Erinnerungen steigen bei diesem Anblick in Lysander auf, plötzlich ist er wie versteinert. So bemerkt er nicht, wie mehrere Männer auf ihn zustürzen. Erst als sie ihn an Armen und Beinen packen, erwacht
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