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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sonderbarste: Sieben höfliche alte Herren (und ein achter, der jünger war), adrett gekleidet, die in zwei Eisenbahnabteilen dem Schlachtfeld entgegenfuhren. Keine schnaubenden Rösser im Morgentau, kein ohrenbetäubendes Kampfgeschrei. Nur ein paar gepflegte Gentlemen, Gelehrte vielleicht, oder pensionierte Beamte; ein Sonntagsausflug in den Augen aller, die sie beobachteten, mit Kaffee und Kuchen am Ziel, einem Spaziergang und dem Aufwärmen alter Erinnerungen.
    Niemand sah ihnen an, daß sie weit über tausend Kilometer zurückgelegt hatten. Niemand schöpfte Verdacht, als sie ihr Gepäck aus dem Zug luden und ein metallisches Klirren aus den Koffern ertönte. Keiner ahnte, daß die Männer hier waren, um den jahrhundertealten Feind ihres Ordens zu schlagen – oder aber unterzugehen.
    Gillian hatte Gian und Tess in der Obhut von Lascaris Dienerschaft in Venedig zurückgelassen. Für den Fall, daß er nicht zurückkehren sollte, hatten die Angestellten Order, in einigen Wochen mit Aura in Verbindung zu treten. Die Diener hüteten seit Jahrzehnten gewissenhaft die Geheimnisse des Templum Novum, und Gillian war überzeugt, sie würden sich auch in dieser Angelegenheit als verläßlich erweisen.
    Bruder Bernardo kam zu spät zum Bahnhof. Er hatte das Telegramm, das sie in Berlin aufgegeben hatten, eben erst erhalten. Von dem Bauern, auf dessen Hof er ein Zimmer bewohnte, hatte er in aller Eile einen Karren gemietet. Gillian war höflich genug, niemandem seine Hilfe beim Aufsteigen aufzudrängen, doch wie sich zeigte, nahmen fast alle sie in Anspruch. Allein Lascari schwang sich mühelos und aus eigener Kraft auf die Ladefläche.
    Gillian fragte sich zum hundertsten Mal seit ihrem Aufbruch in Venedig, wie er wohl mit einem Haufen Greise einen Krieg gewinnen sollte. Nicht, daß er seine Ordensbrüder aufgrund ihres Alters weniger ehrte oder ihnen nicht den nötigen Respekt zollte; aber daß nur die wenigsten von ihnen noch mit einer Waffe umgehen konnten, mußte auch dem Großmeister klar sein. Als der Pferdekarren losschaukelte, wechselten Gillian und Lascari einen zweifelnden Blick, schauten aber gleich wieder in unterschiedliche Richtungen. Beide schämten sich für ihre Gedanken.
    Der Hermaphrodit kletterte zu Bernardo auf den Kutschbock. Vor Gillians Eintritt in den Orden war Bernardo der jüngste unter den Brüdern gewesen, deshalb hatte Lascari gerade ihn nach Deutschland entsandt. Bernardo war vierundfünfzig, gedrungen, aber mit breiten, kraftvollen Schultern. Er war Italiener, wie die meisten seiner Ordensbrüder. Seine Tarnung als Vogelkundler entstammte seinem Steckenpferd, der Ornithologie. Gillian fand, daß Bernardo selbst wie ein Vogel aussah: Seine Nase war lang und gebogen, die Augen schmal, und sein Haar wirkte stets ein wenig wie gesträubtes Gefieder. Bernardo war der einzige unter den Ordensbrüdern, den Gillian ohne Zögern als seinen Freund bezeichnet hätte. Er war der erste gewesen, der Gillian trotz seiner Zweigeschlechtlichkeit akzeptiert und ihm Mut gemacht hatte, wenn er glaubte, an den jahrelangen Aufnahmeprüfungen scheitern zu müssen.
    Gillian beugte sich an Bernardos Ohr, um den Lärm der Räder zu übertönen. »Wie schlimm ist es?« Ein Hase huschte vor ihnen aus dem Gras, starrte das Gefährt einen Moment lang an und verschwand wieder.
    »Ich weiß es nicht«, gestand Bernardo betrübt. »Seit Morgantus hier aufgetaucht ist, erfährt niemand mehr, was im Schloß vor sich geht. Die Dienstboten wurden alle fortgeschickt.«
    »Hat denn niemand die Polizei verständigt?«
    Der Karren rumpelte durch ein Schlagloch, und einer der Ordensbrüder stöhnte.
    »Nein«, sagte Bernardo kopfschüttelnd. »Morgantus fuhr zunächst allein zur Insel und bat um ein Gespräch mit der Schloßherrin. Sie selbst war es, die bald darauf alle Angestellten nach Hause schickte. Morgantus’ Männer ruderten erst in der nächsten Nacht hinüber.«
    »Bist du sicher, daß es nicht mehr als zehn sind?« »Soweit ich sie in der Dunkelheit zählen konnte, ja.« Von hinten rückte Lascari heran. Sein Ausdruck verriet,
    wie unwohl er sich fühlte. Er war ein venezianischer Graf, der Großmeister des Templum Novum, und er war es nicht gewohnt, auf der schmutzigen Ladefläche eines Bauernkarrens zu reisen. Dennoch kam nicht ein Wort der Klage über seine Lippen. Jedem war klar, daß Lascari für dieses Ziel alles getan hatte, was in seinen Kräften stand.
    »Was schlägst du vor, Bruder?« fragte der Graf. »Wie

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