Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Aufbietung aller Kraft auf die Füße zu stellen. Wie durch einen Schleier sah sie, daß die Männer Christopher töten würden. Längst schon regte er sich nicht mehr, sein Gesicht war blutüberströmt, die weiche Haut unter den Augen aufgeplatzt.
»Hören Sie auf!« stammelte Aura, aber niemand beachtete sie. Noch einmal taumelte sie auf die beiden Swanen zu, um sie zurückzuhalten, aber auf halbem Weg stolperte sie abermals. Sie öffnete den Mund, doch kein Ton drang heraus. Hilflos mußte sie mitansehen, wie immer neue Schläge auf den wehrlosen Christopher einprasselten.
Finster und trutzig starrten die Schießscharten des Klosters auf das Drama zwischen den Felsen herab. Noch immer rührte sich nichts. Kein Mensch zeigte sich.
Da ertönte ein unverständliches Wort, so leise, daß die Männer es in ihrem Blutrausch zunächst nicht bemerkten. Die Swanin versuchte es noch einmal, und diesmal gelang es ihr, sich aufzurichten. Einer der Männer verharrte, schaute zu Marie hinüber, die weitere Befehle ausstieß. Er legte seinem Gefährten eine Hand auf den Unterarm, hielt ihn zurück.
Aura verstand nicht, was die junge Frau zu ihnen sagte, aber ihr Tonfall und ihre Gesten machten klar, daß sie versuchte, Christophers Leben zu retten. Unvermittelt drehten sich die beiden Männer um und verschwanden im Labyrinth der Felsspalten. Marie kroch auf allen vieren auf Christopher zu, hockte sich neben ihn und bettete seinen zerschmetterten Schädel in ihren Schoß. Sie flüsterte ihm etwas zu, immer wieder denselben Satz, und es dauerte eine ganze Weile, ehe Aura die Bedeutung der Worte verstand: »Das wollte ich nicht. Das habe ich nicht gewollt.«
»Sie haben ihn getötet«, brachte Aura schwerfällig hervor. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herzschlag raste. Sie hatte das Gefühl, als stünde ihr ganzer Brustkorb in Flammen.
Marie hob das Gesicht und blickte Aura entgegen. Tränen zogen weiße Bahnen durch die Maske aus Blut und Schmutz auf ihren Zügen. »Er hätte mich nicht angreifen dürfen!« Sie schluchzte auf wie ein Kind. »Verdammt noch mal, er hätte es nicht tun dürfen!«
Eine groteske Gewißheit überkam Aura, und das machte alles fast noch schmerzlicher: Marie trauerte um Christopher. Sie hatte ihn gemocht, ohne Frage, vielleicht sogar mehr als das. Was geschehen war, war nicht allein ihre Schuld.
Aber sie hat uns verraten! durchfuhr es Aura in aller Schärfe. Ohne ihren Verrat wäre all das nicht geschehen!
Aura kroch näher an die beiden heran. Christophers Brust hob und senkte sich unmerklich. Er atmete noch. In seinem Stoppelhaar gerann das Blut. Seine Augen waren hinter aufgequollenen Fleischwülsten verschwunden, sein Mund sah aus wie eine riesige Brandblase. Roter Speichel perlte in Maries Schoß, aber sie kümmerte sich nicht darum. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck verzweifelter Hilflosigkeit angenommen.
»Ich habe die beiden zurück zu den anderen geschickt«, brachte sie mühsam hervor, »um eine Trage zu holen.«
Auras Haß und Verachtung wurden von quälender Trauer um Christopher und – das irritierte sie und erfüllte sie mit Wut auf sich selbst – von Mitgefühl für Marie durchdrungen. Ihr Elend war nicht gekünstelt, im Gegenteil: Aura hatte selten einen Menschen so verzweifelt, so voller Scham und Bedauern gesehen.
Sie kauerte sich vor Christopher und Marie auf die Knie und ergriff die Hand ihres Bruders. Es war, als würde die Kälte seiner Finger den Schmerz aus ihrem eigenen Körper vertreiben.
Sein Atem verebbte allmählich. Mit einem kaum hörbaren Zischen strömte die Luft zum letzten Mal über seine geschwollenen Lippen. Das zarte Pumpen in seiner Brust brach ab.
Marie schloß die Augen und zog sein zerschundenes Gesicht an ihre Brust, vergrub ihr Antlitz an seiner Schulter. Aura saß da wie betäubt. Was sie vor sich sah, war der Abschied zweier Liebender.
Schweigend drückte sie ein letztes Mal Christophers kalte Hand, dann stemmte sie sich hoch.
Marie hob ihren Blick. »Was haben Sie vor?«
Aura gab keine Antwort. Stumm, mit versteinerten Zügen, verließ sie den Schutz der Felsen, überquerte das offene Gelände mit seinen skelettierten Sträuchern, trat unter den haushohen Spitzbogen. Jenseits des Portals tauchte ihr Schemen in tintige Finsternis, war im einen Augenblick deutlich zu sehen, im nächsten schon eins mit den Schatten.
KAPITEL 10
Von allen Feldzügen des Templerordens seit seiner Gründung im Jahre 1118 war dies ohne Zweifel der
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