Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
dieser.
Noch immer war nicht zu erkennen, wohin der Korridor führte, und ebensowenig, wie lang er war. Die dünnen Lichtsäulen in seiner Mitte verblaßten irgendwo in der Ferne, alles andere wurde vom Dunkel geschluckt. Aura hörte das Echo ihrer eigenen Schritte in schmerzlicher Intensität von den Mauern widerhallen, doch immer noch zeigte sich niemand. Kein Wächter. Kein Attentäter, der sie im Schatten erwartete. Es war tatsächlich, als sei das Kloster völlig ausgestorben.
Doch plötzlich gewahrte sie vor sich etwas, das anders war. Eine Unregelmäßigkeit im gleichbleibenden Wechsel aus Finsternis und Lichtfäden.
Weiter vorne, zehn Schritte voraus, stand jemand. Eine Gestalt, genau unter einer der Öffnungen, gebadet in den schwachen, flirrenden Schimmer von oben. Hochgewachsen und reglos, gekleidet in ein weißes, wallendes Hemd über einer dunklen Hose. Auf der Brust prangte das Kreuz des Templerordens.
Aura packte den Griff ihres Revolvers fester. Die Berührung spendete keinen Trost. Christopher war gestorben, damit sie hier sein konnte. Sie war es ihm schuldig, daß sie den eingeschlagenen Weg bis zum Ende ging.
Noch immer rührte sich die Gestalt nicht. Einen Moment lang dachte Aura, es handele sich um eine Statue. Der bleiche Lichtstrahl entzog der Erscheinung alle Farben. Sie hätte ebenso aus Granit wie aus Fleisch und Blut sein können.
Aura war bis auf fünf Meter herangekommen, als der Mann sie mit einem vagen Kopfnicken begrüßte. Das lange, hagere Gesicht kam ihr bekannt vor. Ihre Vernunft sagte ihr, daß sie die Züge mit jemandem verband, der hier nichts zu suchen hatte, ein Schatten aus ihrer Vergangenheit.
»Aura Institoris«, kam es leise über spröde Lippen. »Wir hätten uns denken müssen, daß du nicht aufgibst.«
Die Stimme jagte Aura einen eiskalten Schauder über den Rücken. Im Dunkel blitzte ein Schneidezahn aus Silber.
»De Dion!« entfuhr es ihr keuchend.
Madame de Dion, einstmals Direktorin des SanktJakobus-Stifts, war endgültig zum Mann geworden. Zugleich aber begriff Aura, daß wenig Wundersames an dieser Verwandlung war. De Dion hatte die Rolle der Frau mit aller nur möglichen Perfektion gespielt, und doch war es eben ein Spiel gewesen, Theater, eine Schmierenkomödie. Madame de Dion, der Monseigneur, wie ihn die Schülerinnen genannt hatten, war niemals etwas anderes gewesen als ein Mann, ein Tempelritter, ein Getreuer Lysanders.
Und plötzlich war die alte Furcht wieder da. Bilder durchzuckten Auras Gedächtnis. Die erste Begegnung; der Schmerz, als die Direktorin sie an den Haaren zu Boden riß; die furchtbare Nacht, als sie Morgantus eines der Mädchen opferte. Alles kehrte zurück, überwältigte Aura mit seinen Schrecken. Sie hatte geglaubt, diese Ängste längst abgelegt zu haben, doch nun wurde sie eines Besseren belehrt: Sie war immer noch genauso anfällig dafür wie damals, vor über sieben Jahren.
»Gib mir die Waffe«, verlangte de Dion mit schnarrender Stimme. Auch er war älter geworden, sein Gesicht noch eingefallener. Unter dem weißen Templerhemd hoben sich seine Schulterknochen ab wie verbogenes Drahtgestänge.
Aura hob den Revolver, allerdings nicht, um seinem Befehl zu gehorchen. Statt dessen richtete sie die Mündung auf das Templerkreuz auf seiner Brust. Ihre Hand zitterte. Aura betete, er möge es nicht bemerken.
»Du zitterst«, sagte der Templer. »Du drückst nicht ab.«
De Dion stand weiterhin wie erstarrt in seiner Insel aus Licht, während um Aura nichts war als Finsternis. Jeden Augenblick erwartete sie, daß sich Hände aus dem Dunkel nach ihr ausstreckten, sie packten, zu Boden warfen.
Aber nichts rührte sich. War es möglich, daß de Dion ihr allein gegenübertrat?
Noch immer hatte sie Mühe, auch nur ein einziges Wort herauszupressen, geschweige denn ganze Sätze zu bilden. »Ich werde Sie töten«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Sie wissen, daß ich das kann.«
»Und?« Sein Gleichmut klang ungekünstelt. »Was hättest du davon?«
»Rache. Vielleicht Genugtuung.«
»Daran liegt dir nichts, Aura. Ich kenne dich besser, als du für möglich hältst.«
Je länger er sprach, desto ruhiger wurde sie. Seine Stimme zu hören nahm ihm ein wenig vom Anschein des Übernatürlichen, den seine schimmernde Erscheinung erweckte. Das Zittern in Auras Hand ebbte ab. »Wo ist meine Schwester?«
De Dion mochte bemerkt haben, daß es ein Fehler war, sich auf ein Gespräch mit ihr einzulassen Allzu gut inszeniert war sein
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