Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
sollen wir vorgehen?«
Bernardo deutete nach Norden, wo jenseits der Wiesen der helle Dünenstreifen leuchtete. Vom Meer trieben vereinzelte Wolken heran, graue, faserige Flecken, wie Farbspritzer auf einem Hemdsärmel. »Solange es hell ist, können wir ohnehin nichts tun. Weiter östlich liegen zwei Ruderboote zwischen den Dünen. Wir müssen versuchen, damit hinüberzukommen.«
»Die wichtigste Frage ist doch«, wandte Gillian ein, »was Morgantus überhaupt im Schloß zu suchen hat. Warum ist er nicht zu Lysander in den Kaukasus zurückgekehrt?«
»Er muß von Wien aus hergekommen sein«, sagte Lascari. »Aber weshalb hat er das nicht schon vor Wochen getan? Was will er hier?«
Darauf fand keiner eine Antwort, und so verschoben sie weitere Erörterungen auf einen späteren Zeitpunkt. Es war früh am Vormittag, und bis zum Einbruch der Dunkelheit mochten noch sieben oder acht Stunden vergehen, Zeit genug für Diskussionen.
Rund einen Kilometer vor dem Dorf bogen sie nach rechts in einen Weg, der entlang der Dünen nach Osten führte. So weit im Norden war es merklich kälter als in Venedig, und die scharfen Winde, die von der See hereinbliesen, bissen schmerzhaft durch Mäntel und Schals. Möwen schrien in der Ferne. Erlen und Ginsterbüsche neigten sich schräg nach Süden, als wollten sie mit ihren Zweigen nach Wärme und Sonnenlicht greifen. Das sumpfige Wiesenland erstreckte sich flach wie ein grüner Teppich in die Unendlichkeit, und auf der anderen Seite, jenseits der Dünen, lag die See grau und aufgewühlt unter dem grauen Himmel.
Die Tristesse schlug ihnen allen aufs Gemüt, den Älteren mehr noch als Gillian, der dieses Land bereits kannte und sich den Herausforderungen, die ihrer harrten, weit gewachsener fühlte als der Rest der Ordensbrüder. Im stillen fragte er sich, wie lange es dauern mochte, bis der erste über eine Erkältung klagte und notgedrungen an Land bleiben mußte. Je mehr er darüber nachdachte, desto hoffnungsloser erschien ihm ihr ganzes Unterfangen.
Bernardo lenkte den Wagen abseits vom Weg durch die Dünen. Immer wieder drohte das schwere Gefährt im Sand steckenzubleiben, und einmal mußten gar alle absteigen und den Karren aus einer besonders weichen Senke schieben. Endlich aber erreichten sie eine kleine Bucht, in der die beiden versprochenen Boote lagen. Jedes bot im Normalfall Platz für sechs Mann. Damit waren sie gerade groß genug für die neun Ordensbrüder und ihre schwere Ausrüstung. Die Schloßinsel lag einen halben Kilometer weiter westlich. Hohe Dünenwälle schirmten das Templerlager gegen Morgantus’ Späher ab.
Bernardo hatte vorgesorgt; als Schutz vor dem Wind hatte er eine Plane gespannt, hinter der sie sich niedersetzten. Hier konnten sie einigermaßen entspannt auf den Abend warten, Pläne schmieden, sogar ein kleines Feuer entzünden.
In den kommenden Stunden verlegten sich die meisten der Brüder auf fromme Gebete. Doch ein Seitenblick auf Bernardo versicherte Gillian, daß er selbst nicht der einzige war, der die Befürchtung hegte, daß ihr Schicksal nicht in den Händen Gottes, sondern allein in ihren eigenen lag. Gillian wußte nicht, wie es um die Hände des Herrn bestellt war, aber die meisten, die er hier um sich sah, zeigten Spuren von Gicht. Aber genaugenommen war das die geringste seiner Sorgen.
Zwanzig Schritte weit blieb die Finsternis vollkommen, sogar der Schein vom Eingang endete abrupt nach wenigen Metern. Dann aber durchbrach ein senkrechter Strahl von oben das Dunkel, eine flitternde Säule aus Licht, in der sich ein Firmament tanzender Stäubchen bewegte.
Aura schaute nach oben und sah in der Decke eine winzige Öffnung, die sich durch alle Stockwerke bis zum Dach ziehen mußte. Und als sie wieder nach vorne blickte, tiefer ins schwarze Herz des Templerklosters, entdeckte sie in Abständen von fünf bis zehn Metern weitere dieser Lichtsäulen.
Nachdem sich ihre Augen an das fahle Zwielicht gewöhnt hatten, gelang es ihr, die Wände rechts und links des Korridors auszumachen. Sie waren mit Malereien bedeckt, halb verblaßt und nicht besonders kunstvoll. Die Darstellungen erinnerten sie an die Bleiglasfenster daheim im Schloß. Die gleichen Motive, der gleiche alchimistische Hintersinn. Nur die Ausführung war schwächer.
Sie ertappte sich dabei, daß sie wieder an ihren Fingernägeln kaute. Aura Institoris, die große Alchimistin – doch vom Nägelkauen würde sie wohl nie lassen können, schon gar nicht in einer Lage wie
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