Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Himmel sei gedankt –, da waren sie wieder! Über ihnen ballten sich Wolken zusammen. Lysanders Gesicht war so grau, daß es sich kaum davon abhob. Er war außer Atem, keuchte und stöhnte. Sylvette hatte eine Schürfwunde an der Wange, dennoch schien sie hellwach und voller Sorge um Aura. Tränen standen in ihren Augen.
»Ihr müßt gehen«, rief Aura ihr zu. »Südwestlich von hier gibt es ein Dorf. Versucht nicht, mit den Leuten dort zu reden – sie würden euch nur zurückbringen. Wartet bis zur Nacht, und stehlt ihnen zwei Pferde, wenn ihr könnt.« Sie wußte selbst, wie aussichtslos dieser Plan war.
»Ich gehe nicht ohne dich«, erwiderte Sylvette.
»Sei nicht dumm!« gab sie zurück. »Wenn du jetzt nicht von hier verschwindest, war alles umsonst. Denk an Christopher – er ist gestorben, um dir die Flucht zu ermöglichen.«
»Nein«, sagte Sylvette beharrlich. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die feuchten Wangen.
Aura gab nicht auf. »Bitte, Sylvette. Fliehe! Ich komme schon irgendwie hier raus.«
Ihre Schwester faßte einen Entschluß. »Ich versuche, die Tür von außen zu öffnen.«
»Nein, verdammt!« fluchte Aura. »Ihr seid nicht einmal bewaffnet. De Dion wird euch umbringen.«
Aber Sylvette hatte sich bereits von der Öffnung zurückgezogen. Aura hörte, wie sich die Schritte der beiden entfernten, ein Schaben und Kratzen auf dem Dach über der Brücke. Sie bewegten sich in Richtung Treppenhaus.
Zum ersten Mal geriet Aura vollends in Panik. Wie eine Furie lief sie den Gang hinunter, die Augen zum dunklen Dachfirst gerichtet.
»Sylvette!« schrie sie so laut sie konnte. »Tu es nicht, Sylvette! Sie töten euch!«
Aber die Schritte klapperten weiter. Die Dachbalken über dem Gang vibrierten im flackernden Kerzenschein. Aura rannte vornweg, während die Geräusche ihr unaufhaltsam folgten. Sylvette und Lysander liefen in den sicheren Tod.
»Sylvette!« rief sie noch einmal. In hilflosem Zorn trat sie ein halbes Dutzend Kerzen um. Flüssiges Wachs spritzte gegen die Wände, befleckte ihre Stiefel.
»Sie töten dich!« Ihr Schluchzen verschluckte die Worte. Aura sank auf die Knie, vergrub das Gesicht in den Händen. Sie konnte nichts tun.
Die Geräusche der Schritte auf dem Dach entfernten sich, brachen schließlich ab. Sylvette und ihr Vater hatten das Ende der Brücke erreicht, betraten jetzt das Hauptdach.
Wie in Trance schleppte Aura sich zum Treppenhaus. Sie machte sich nicht die Mühe, eine der Kerzen aufzuheben, stolperte im Finsteren die Stufen hinunter. Es schienen mehr geworden zu sein, als wolle sogar das Gemäuer verhindern, daß sie jemals unten ankam; als strecke und zerre es seine steinernen Glieder bis hinab in die Unendlichkeit.
Irgendwann erreichte sie dennoch das Erdgeschoß. Durch den Spalt des Doppeltors schnitt ein hauchfeiner Lichtstrahl. Mit beiden Fäusten begann sie gegen das kalte Eichenholz zu hämmern.
»De Dion!« brüllte sie in ihrer Verzweiflung. »De Dion, laß mich hier raus!«
Nichts rührte sich. Die Wächter ignorierten sie.
Sie versuchte es weiter, minutenlang. Ohne Erfolg. Ausgelaugt und ohne Hoffnung sank sie schließlich auf die unterste Stufe, zog die Knie an, starrte ins Dunkel. Sie versuchte zu überlegen, ein, zwei klare Gedanken zu fassen, aber ihr Denken weigerte sich, in gerade Bahnen zu fließen. Die Angst um Sylvette fegte alles andere beiseite.
Lange saß sie so da, horchend, grübelnd, bis Aufregung und Erschöpfung ihren Preis forderten. Aura schlief ein.
Als sie wieder erwachte, hatte sie nicht die geringste Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. Minuten, möglicherweise. Vielleicht auch Stunden.
Ein scharfes Krachen ertönte, hart und abrupt. Ein zweites Mal. Das Echo hallte durchs Treppenhaus, brach sich an den hohen Steinwänden.
Schüsse!
De Dion und seine Männer machten Sylvette und Lysander den Garaus. Seltsam, wie präzise Aura mit einem Mal die Lage erfaßte. Merkwürdig auch, daß ihre Panik plötzlich wie weggewischt war.
Jenseits des Tores peitschten weitere Schüsse. Jemand schrie auf. Eine junge Frau.
Dann – Ruhe. Schlagartige Stille.
Aura hockte immer noch auf der Treppe, die Fäuste vor dem Mund geballt. Sie biß sich auf die Fingerknöchel. Sie hörte Schritte, die sich von der anderen Seite dem Tor näherten. Jemand rannte. Ein sperriger Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt, herumgedreht. Knirschend schwang der rechte Flügel nach innen. Eine grelle, blendende Lichtflut ergoß sich ins Treppenhaus.
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