Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Und ein Umriß trat ihr entgegen. Zierlich, mit wildem Lockenhaar.
Marie Kaldani streckte Aura die Hand entgegen.
***
Um Charlotte zu befreien, mußte Gillian den Torso des Alchimisten nach dem Schlüssel für die Leuchtkuppel absuchen. Er fand ihn in einer Innentasche des Kapuzenmantels.
Die Schloßherrin war nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft ins Freie zu taumeln. Gillian hielt sich den Arm vor die Nase, betrat den Glaskäfig, stapfte durch die wolkigen Wogen aus Vogelkot und Federn und packte Charlotte am Arm. Sie ließ sich willenlos nach draußen schleifen, in einer Flut aus weißgrauem Staub und Gefieder, das der Wind wie Schneeflocken übers Geländer wirbelte.
Charlotte blieb auf dem Rundweg der Turmspitze liegen, zusammengerollt wie ein Ungeborenes im Mutterleib, das Gesicht zum Geländer, zur See, zur frischen Luft gewandt. Ihr schwarzes Kleid war mit weißem Staub überzogen, ebenso ihr Gesicht, das einstmals hochgesteckte Haar. Gillian ging neben ihr auf die Knie, schüttelte sie, gab ihr eine Ohrfeige. Ganz langsam kam sie zu sich, wie aus einem tiefen Traum, doch als sie weit genug bei Sinnen war, um den Schmerz zu spüren, begann sie zu schreien. Sie schrie so schrill, so anhaltend, daß es den Wind und die Brandung an den Felsen übertönte, eine Sirene, deren Rufe weit über den Ozean hallten.
Als sie schließlich die Augen aufschlug und Gillian anblickte, sah er, daß auch ihre Augäpfel von einer Staubschicht überzogen waren. Der ätzende Vogelkot fraß sich durch Hornhaut und Iris zu den Sehnerven vor, während schmale Rinnsale aus Nase und Mundwinkel bluteten. Ihre Schleimhäute lösten sich auf. Sie brauchte Wasser, viel Wasser, so schnell wie möglich.
Morgantus’ kopfloser Körper hing immer noch mit dem Rücken über dem Geländer, beide Arme nach hinten gestreckt. Die Windböen zerrten an ihnen; es sah aus, als winkten sie unsichtbaren Schiffen am Horizont zu. Gillian trat neben ihn, starrte ihn sekundenlang ausdruckslos an. Dann bückte er sich, packte die Beine des Mannes, der vielleicht sein Vater gewesen war, und kippte ihn über die Brüstung. Als Gillian hinabblickte, war bereits keine Spur mehr von ihm zu sehen. Die See würde ihn irgendwo begraben, an einem fernen Strand oder in den Tiefen des Ozeans.
Er nahm Charlotte auf den Arm und trug sie die Treppe hinunter. Obwohl sie kaum etwas wog, machte ihm selbst das wenige Gewicht zu schaffen. Er war nie besonders kräftig gewesen, und ihm war noch schwindeliger als beim Aufstieg. Die geländerlose Treppe reichte wie ein endloses Schraubengewinde in die düstere Tiefe. Im Erdgeschoß fielen ihm unterhalb der Stufen ein paar Decken und eine Kiste mit Verpflegung auf – Charlottes Exil. Dort entdeckte er auch ein hölzernes Faß mit Trinkwasser. Er legte Charlotte auf den Boden und goß ihr einen Großteil des Wassers übers Gesicht, brachte sie dazu, ihren Mund auszuspülen. Ein wenig träufelte er sogar in ihre Nasenlöcher. Sie hustete Rotz und Wasser aus, aber auch eine Menge von dem tödlichen Staub.
Leise röchelte sie in seinen Armen, als er mit ihr die Stufen zum Geheimgang hinabstieg und sich auf den Rückweg zum Schloß machte.
Auf der Turmspitze fuhr eine heulende Windhose in die Glaskuppe und trieb Federn und Staub nach außen, eine weiße Fahne, spiralförmig zum Himmel aufgeschleudert und dort in alle Richtungen verweht.
Im Westen versank die Sonne hinter aufstrebenden Schneegipfeln. Uschgulis Türme erhoben sich wie schlanke Grabmäler hinter einer Hügelkuppe, umnebelt vom Dunst der Abenddämmerung. Das letzte Stück des Weges war schlammig und aufgewühlt von einer Ziegenherde, die ihr Hirte entlang des Pfades ins Dorf getrieben hatte.
Die Reiter, die von Osten her nach Uschguli trabten, waren schweigsam und erschöpft. Marie führte die Gruppe an. Sie hatte während des Weges kaum ein Wort gesprochen, auch nicht mit Aura, die hinter ihr ritt. Sylvette und Lysander teilten sich ein Pferd, weil der alte Mann sich nach der Kletterpartie über die Dächer nicht mehr allein im Sattel halten konnte.
Fünf Swanen hatten bei dem Angriff auf das Kloster ihr Leben verloren. Die Leichen hingen bäuchlings über ihren Pferden. Die Kameraden der Toten führten die Tiere an den Zügeln.
De Dion und die beiden anderen Templer hatten sie im leeren Kloster zurückgelassen. Viel war nicht von ihnen übriggeblieben. Selbst als sie schon tot waren, hatten die Männer weiter mit Säbeln und Gewehrkolben auf sie
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