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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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eingeschlagen, als Vergeltung für den Tod ihrer fünf Gefährten.
    Die beiden Männer, die Christopher erschlagen hatten, waren nicht unter den Angreifern gewesen. Marie hatte sie mit dem Leichnam zurück nach Uschguli geschickt, um dort sein Begräbnis vorzubereiten. Aura hatte keine andere Wahl, als dies als Bekenntnis ihrer Reue zu akzeptieren. Ihr fehlte die Kraft für Rachegefühle. Sie hatte über de Dions geschundener Leiche gestanden und nicht die Spur einer Emotion in sich entdeckt. Kein Triumph, keine Freude, kein Hohn. Nur tiefe, eisige Gleichgültigkeit.
    Die Frauen des Dorfes empfingen sie mit Tee, selbstgebranntem Schnaps und Kesseln voll kochender Brühe. Lysander wurde im Haus von Maries Mutter zur Ruhe gelegt, er hatte Fieber und phantasierte. Der Kräuterdoktor, dem Marie die Pflege des alten Mannes anvertraute, versprach, daß Lysander in einer Woche wieder wohlauf sein würde; allein die dreitägige Reise nach Suchumi könne man ihm nicht mehr zumuten, geschweige denn den Weg nach Deutschland.
    Marie begleitete Aura und Sylvette zum Friedhof am Rande des Dorfes. Christopher war in einer kleinen Kapelle aufgebahrt worden, im Schein zahlreicher Kerzen. Vor der Tür standen mehrere Männer mit Fackeln. Marie blieb mit ihnen zurück, während die Schwestern Abschied von ihrem Stiefbruder nahmen.
    Christopher wurde in einem frisch ausgehobenen Grab beerdigt. Aura hatte beim Steinmetz des Dorfes eine Granitplatte in Auftrag gegeben, die das gesamte Grab bedecken sollte. Maries Mutter hatte versprochen, die Ausführung zu überwachen.
    Marie ging vor dem Grab in die Knie und betete lautlos; nur ihre Lippen bewegten sich. Aura sah im Fackellicht, daß Tränen über ihre Wangen liefen.
    Später zogen sich die Dorfbewohner zurück, nur Aura und Sylvette blieben noch mit einer einsamen Fackel am Grab. Der Wind rauschte von den Hängen herab, spielte in ihrem Haar und heulte in den Wehrtürmen des Dorfes wie ein sterbendes Tier. Der flackernde Schein der Fackel geisterte über ihre Gesichter und warf den Schatten des Grabkreuzes weit über die angrenzende Bergwiese.
    »Was wirst du jetzt tun?« fragte Aura, ohne den Blick von Christophers Grab zu nehmen.
    »Einschlafen am liebsten, und einem anderen die Entscheidung überlassen.« Sylvette war müde, wie alle anderen, die vom Kloster zurückgekehrt waren. Und doch war etwas in ihrer Stimme, das hoffnungsvoll, beinahe energisch wirkte. »Was würdest denn du an meiner Stelle tun?«
    Sie weiß es, dachte Aura. Sie weiß, daß sie zum ersten Mal die Möglichkeit hat, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
    »Ich glaube, daß es keine Rolle spielt, was ich tun würde«, sagte Aura. »Außerdem kennst du die Antwort.« Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Lysander gegeben hatte. »Hier im Dorf ist er sicher, Maries Mutter will auf ihn achtgeben. Ihr Angriff auf das Kloster hat bewiesen, daß sie es ehrlich meint. Lysander ist ein alter Mann, der irgendwann –«
    »In Ruhe und Frieden sterben wird. Das meinst du doch, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Ich sollte dann bei ihm sein.«
    »Glaubst du wirklich, daß er das will?« fragte Aura zweifelnd. »Er hat alles getan, um dir als guter Mensch in Erinnerung zu bleiben, ohne all die Makel seiner Vergangenheit. Deinetwegen hat er sein Leben geändert. Er hat versucht, dir ein Vater zu sein, mit all der Vollkommenheit, die er zustande brachte – und die die Umstände ihm erlaubten. Aber wird er wollen, daß du siehst, wie er stirbt? Wie der Tod ihn einholt und zu einem ganz normalen Sterblichen macht? Das kann ich mir nicht vorstellen. Es paßt nicht zu ihm.«
    Sylvette ging in die Hocke und ließ Erde von Christophers Grab gedankenverloren durch ihre Finger rieseln. »Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen.«
    »Geh nur«, sagte Aura, »ich warte hier auf dich.«
    Und das tat sie. Eine Stunde lang, dann zwei. Allein mit Christopher an seinem Grab, allein mit dem Bruder, den sie anfangs gehaßt und am Ende liebgewonnen hatte. Jetzt, einsam auf diesem Friedhof in den Bergen am Ende der Welt, jetzt endlich weinte sie um ihn, um die Familie, die sie hätten sein können, um ihre Freundschaft. Sie sank vor dem Grab auf die Knie, so wie Marie es getan hatte, und ihre Rechte strich über den Erdhügel.
    Irgendwann werden hier grüne Pflänzchen wachsen, dachte sie traurig, und mit Blättern wie kleinen Schwertklingen versuchen, ins Freie vorzustoßen; dann aber wird es eine Platte aus Granit sein, die ihnen Einhalt

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