Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Haar zerzauste. Ihr Gesicht war immer noch kreidebleich, als sie sich über den Rand lehnte und den beiden am Boden aufmunternd zunickte.
Ein erleichtertes Kribbeln raste durch Auras Körper. Aufatmend trat sie vor und rüttelte prüfend an den Kisten. Dann rückte sie vorsichtig die Kanten übereinander, die sich bei Sylvettes Aufstieg verschoben hatten, und blickte zu ihrer Schwester empor.
»Wie sieht es da oben aus? Kannst du irgendwelche Dachluken oder Fenster erkennen?«
Sylvette beschattete ihre Augen mit der Hand und hielt Ausschau. Schließlich nickte sie. »Es gibt ein paar Giebel mit Fenstern. Die Dächer sind nicht besonders steil. Es dürfte nicht allzu schwer sein, es bis dorthin zu schaffen.«
»Sie hat recht«, sagte Lysander, immer noch atemlos von der Angst um seine Tochter. »Die Dächer der acht Seitentrakte haben Fenster. Durch sie könnt ihr nach innen klettern.«
»Wir?«
»Ich bleibe hier.«
Aura hatte kommen sehen, daß er das sagen würde. Sie selbst hätte wenig dagegen einzuwenden gehabt, aber sie wußte genau, daß Sylvette ohne ihren Vater nicht gehen würde.
»Nein«, sagte sie deshalb. »Sie klettern als nächster.«
»Ich bin zu alt«, widersprach er. »Ich würde kaum auf eine dieser Kisten hinaufkommen, geschweige denn auf vier.«
»Ich halte Sie fest. Wenn Sie oben sind, kann Sylvette Sie aufs Dach ziehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Es geht nicht. Ich kann es nicht.«
»Machen Sie schon«, zischte Aura verärgert. »Wenn Sie hierbleiben, wird sie es auch wollen.«
Er seufzte schwer und rieb sich die Augen. Dann plötzlich straffte er sich. Sein Blick geisterte über die vier Kisten, verharrte dann auf Aura. »Ich weiß, daß du dich um Sylvette kümmern wirst, wenn mir etwas geschieht«, sagte er leise, damit seine Tochter ihn nicht hören konnte. »Ich weiß, daß du mich verabscheust, Aura, aber sollte ich den heutigen Tag nicht überleben, dann, bitte, versuch nicht, Sylvette die Liebe zu ihrem Vater auszureden.« Sein Blick war flehend, die Pupillen groß und dunkel, trotz des Dämmerlichts.
»Versprochen«, erwiderte Aura ernsthaft. »Und nun gehen Sie endlich.«
Tiefempfundene Dankbarkeit sprach aus seinen Augen. Er holte aus und warf seinen Stock zur Öffnung hinauf. Sylvette fing ihn auf und legte ihn neben sich aufs Dach. Dann begann Lysander seinen Aufstieg. Aura packte auch ihn oberhalb der Hüften und stützte ihn beim Klettern. Sein Zittern setzte sich durch ihre Finger bis zu den Ellbogen fort. Er gab sich Mühe, seine Anspannung unter Kontrolle zu halten, doch der Versuch mißlang.
Aura wurde unsicher. Der Gedanke, daß der abgemagerte Körper, den sie zwischen ihren Händen hielt, mehr als siebenhundert Jahre alt war, ließ sie frösteln. Es war, als müsse sie einen uralten Leichnam berühren. Sie fragte sich, ob sie selbst einmal genauso enden würde. Die Vorstellung allein entsetzte sie derart, daß sie Lysander beinahe losgelassen hätte. Sie beherrschte sich in letzter Sekunde.
Irgendwie gelang es dem alten Mann tatsächlich, die Spitze zu erreichen. Aura atmete auf.
Plötzlich gab die untere Kiste nach.
Mit einem lautstarken Geräusch sackte der ganze Turm eine Handbreit nach unten, rundherum zersplitterten mehrere Latten. Lysander schwankte, keuchte, während Aura die Arme hochriß und ihn an den Waden packte. Taumelnd versuchte er sein Gleichgewicht zu halten. Die Kisten wackelten noch immer, eine weitere Latte barst in Stücke, und der Turm neigte sich dem Abgrund entgegen.
Von oben schossen Sylvettes Hände herab, packten Lysander an den Armen.
»Springen Sie!« schrie Aura hinauf und ließ die Beine des Mannes endgültig los.
Er zögerte noch immer. Nur eine Sekunde. »Die Kisten werden …«
»Verdammt, nun springen Sie schon!«
Mit aller verbliebenen Kraft stieß er sich ab, glitt strampelnd durch die Öffnung, während Sylvette ihn zugleich nach oben riß. Beide verschwanden polternd jenseits der Kante.
Die Kisten fielen. In einer hilflosen Geste gelang es Aura noch, die oberste zu packen. Alle anderen sackten über den Rand der Öffnung hinweg, trudelten lautlos in die Tiefe.
Fluchend knallte Aura die letzte Kiste auf den Boden. Die Latten splitterten auseinander.
Ihr Blick raste zur Decke. Die Öffnung war leer. Wo waren die beiden? Vorhin hatte sie ein Poltern gehört. Das Dach war nicht allzu steil, hatte Sylvette gesagt. Steil genug, um herunterzurollen? Über die Kante hinweg, hinab in den Abgrund?
Nein – dem
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