Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
jetzt empfand. Sie spürte, daß etwas mit seinem Gesicht nicht stimmte, daß er anders war als andere Männer. Jeder, der ihn zum ersten Mal sah, reagierte so.
Dennoch blickte sie ebenso schnell wieder weg, wie sie hingeschaut hatte. Ja, dachte er noch einmal, sie hat sich sehr gut im Griff. Bewundernswert.
»Und Sie?« fragte er und fügte eilig hinzu: »Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich erscheine. Wenn ich Sie störe, halte ich sofort meinen Mund.«
Ein trübes Lächeln flackerte über ihre Züge. »In die Schweiz. Nach Zürich. Und, nein, Sie stören mich nicht. Ein wenig Ablenkung tut mir vielleicht ganz gut. Haben Sie hier oben Verwandte besucht?«
»So könnte man es nennen, ja.«
»Wen denn, wenn ich fragen darf? Ich kenne jeden im Dorf.«
Fühlte sie seine Unsicherheit? Er nannte den erstbesten, der ihm einfiel. »Den Wirt des Gasthofs. Nur ein sehr entfernter Verwandter. Aber ich war auf der Durchreise, und meine Mutter hat mich gebeten, bei ihm vorbeizuschauen.« Weil ihm das noch zu vage war, ergänzte er: »Ein gastfreundlicher Mann. Und ein sauberes Haus.«
»O ja«, bestätigte sie, aber er sah ihr an, daß ihre Gedanken ganz woanders waren. »Er ist nett. Manchmal bringt er uns Kuchen zur Insel, den seine Frau gebacken hat. Meine Schwester ist immer ganz aus dem Häuschen, wenn sie ihn an der Anlegestelle entdeckt.«
»Sie leben auf einer Insel?«
Sie lehnte sich müde zurück und strich sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. »Lebte, ja. Aber das ist vorbei.«
»Sie ziehen fort?«
»Ins Internat«, erwiderte sie mit geisterhaftem Lächeln. »In die Berge. Ein ganz schöner Wechsel, nicht wahr?«
Gillian folgte ihrem Blick hinaus in die flache Landschaft. Der Zug stampfte durch eine Ödnis aus Wiesen im Herbstlicht. Das Gras wellte sich wie Meereswogen. Immer wieder fuhren sie an schmalen Bächen und Moorlöchern vorbei.
Das Mädchen tat ihm plötzlich leid, und das lag nicht nur an der Traurigkeit, die sie ausstrahlte. Die langen Wimpern flatterten nervös über ihren blaßblauen Augen und nahmen ihnen das lebhafte Leuchten. Einen Moment lang überkam ihn das Gefühl einer engen Verwandtschaft: Sie war ebenso in eine Rolle gedrängt worden, die sie nicht wollte, wie er selbst. Eine alberne Empfindung, das wußte er, aber mit einemmal konnte er an nichts anderes mehr denken.
Vielleicht trägt sie schon die Frucht ihres Vaters in sich, hatte Lysander geschrieben.
Töte sie.
Der Fremde verwirrte sie. Aura zerbrach sich den Kopf darüber, was genau es sein mochte, das sie so irritierte. Sie war beileibe nicht in der Stimmung, sich Gedanken über andere zu machen, und doch ließ seine Anwesenheit ihr keine Ruhe.
Sein Gesicht war makellos, hatte aber auch etwas Fremdartiges, fast Verschwommenes. Wie zwei Bilder, die sich im Traum überlagerten. Sie fand ihn anziehend, äußerst attraktiv sogar, aber sie wußte nicht, woran es lag. Er hatte nur wenige Worte gesprochen, mit einer sanften, wohlartikulierten Stimme, und es waren nicht mehr als Allgemeinplätze gewesen. Höflichkeiten, die nichts über ihn verrieten, außer, daß er Österreicher sein mochte. Und nicht einmal dessen konnte sie sicher sein. Er hatte keinen Akzent, nicht einmal einen Hauch davon.
Der Fremde kreuzte sehr vorsichtig ihren Blick, als fürchtete er, sie dadurch zu verletzen. »Für höhere Töchter, nehme ich an.«
Einen Herzschlag lang wußte sie nicht, was er meinte. »Wie bitte?« fragte sie.
»Das Internat. Es ist sicher eine Schule für höhere Töchter.«
»Ich glaube schon.« Natürlich wußte sie es ganz genau, aber die Wahrheit war ihr peinlich. Sie wollte nicht, daß er sie für eine verwöhnte Göre hielt. »Ich weiß nicht viel darüber. Meine Eltern haben alles in die Wege geleitet. Ich habe nur eine Adresse, irgendwo in den Bergen bei Zürich.« Sie kramte in einer Tasche ihres Kleides und zog einen Zettel hervor. »Sankt-Jakobus-Stift für Mädchen. Klingt einladend, finden Sie nicht?«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Ungewöhnlich, ein Mädcheninternat nach einem männlichen Heiligen zu benennen.«
»Sagen Sie bloß, Sie kennen sich mit so was aus?«
»Ich bin kein praktizierender Christ, wenn Sie das meinen.«
»Mein Vater hält nicht viel von der Kirche«, sagte Aura und fragte sich zugleich, warum sie ihm das erzählte. »Er hat sogar meiner Mutter ihren Glauben ausgetrieben.« Sie war drauf und dran, ihm alles zu offenbaren, ihre Enttäuschung und Wut, bremste sich aber im letzten
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