Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Auftrag! Was für eine Farce!
Er hatte gerade etwas ungemein Wertvolles ruiniert. Nicht ein Leben, wie früher, nein, vielmehr ein Gefühl, eine unbekannte, warme Empfindung.
Gillian war verstört. Und er hatte Angst. Vor allem vor sich selbst, einem Teil von sich, den er noch immer nicht gänzlich verstand. Er mußte sich selbst zur Ruhe zwingen, um überhaupt zu begreifen, was eben geschehen war. Um zu verarbeiten, was er getan, besser, nicht getan hatte.
Dabei war es so einfach: Er hatte Aura Institoris nicht getötet. Er hatte gegen Lysanders Befehl verstoßen.
Noch kannst du zurückgehen! lockte ihn eine innere Stimme. Geh zurück und mach Schluß mit ihr! Denk an das Risiko! Denk an Lysander!
Er riß seine Tasche aus dem Netz, öffnete den Verschluß, kramte gehetzt darin herum. Lysanders Schreiben knisterte, als er es unter den unbenutzten Waffen hervorzog.
Gillian war noch nicht fertig. Er war zu weit gegangen, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Er würde diese Sache auf seine Weise abschließen. In aller Konsequenz.
Er faltete das engbeschriebene Papier und steckte es in Auras Reisetasche. Schob Lysanders Anweisungen in das Gepäck seines vermeintlichen Opfers.
Ob er richtig handelte, wußte er nicht. Was er tat, geschah aus einem unbestimmten Bedürfnis heraus, nicht aus Vernunft. Zum ersten Mal seit langem folgte er seinen eigenen Empfindungen, tat das, was allein er für nötig hielt.
Sie mußte die ganze Wahrheit erfahren. Es war seine Art von Wiedergutmachung. Ein verzweifelter Versuch, das wußte er.
Schließlich nahm er seine Tasche, horchte noch einmal auf Auras Rufe in der Ferne, dann lief er zur nächstbesten Waggontür. Der Zug fuhr noch immer mit hoher Geschwindigkeit, aber rechts und links des Bahndamms erstreckte sich ein Netz aus Teichen und Moorlöchern. Es kam nur auf den richtigen Augenblick an.
Gillian stieß die Tür auf, packte seine Tasche fester. Keine Zeit, die Gefahren abzuschätzen! Er beobachtete, wartete, sprang schließlich hinaus in die rasende Landschaft.
Der Schaffner durchsuchte den Zug vom ersten bis zum letzten Waggon, doch Aura sah ihm an, daß er ihr kein Wort glaubte. Wo, bitte, war denn die Tasche dieses ominösen Räubers geblieben? Und warum überhaupt ließ eine junge Dame wie sie es zu, daß sich ein Wildfremder in ihr Abteil setzte, wo doch der ganze Zug vollkommen leer war?
Was er, verdammt noch mal, damit andeuten wollte, schrie sie ihn an. Und mehr noch: Aufgebracht erinnerte sie ihn an den Gürtel, den er selbst hatte durchschneiden müssen, um sie zu befreien. Und an die offene Waggontür. Doch nicht einmal das akzeptierte er als Beweis. Nicht, daß er sein Mißtrauen aussprach, ihr gar Lügen unterstellte. Insgeheim aber schien er überzeugt zu sein, daß das reiche Fräulein sich nur interessant machen wollte. Er empfahl ihr, am nächsten größeren Bahnhof die Polizei zu verständigen. Sie erkannte den Argwohn in seinen Augen und dachte zynisch, wenn die Welt hier draußen voll war von solchen Kerlen, dann würde sie im Internat ein Zimmer auf Lebenszeit buchen.
Der Schaffner trug ihr Gepäck murrend in den vorderen Waggon, gleich neben sein Dienstabteil. Aura war überzeugt, daß Gillian den Zug verlassen hatte, und doch – ein leiser Zweifel blieb. Hatte er seine Flucht nur vorgetäuscht, um später noch einmal über sie herzufallen, wenn sie nicht damit rechnete? Aber warum hatte er es dann nicht vorhin getan, als sich die beste Gelegenheit bot? Dieser Gillian war kein gewöhnlicher Verbrecher, soviel stand fest.
Bis zum nächsten Umsteigen fand sie keinen Schlaf, und auch dann fiel es ihr noch schwer, an etwas anderes zu denken als an Blicke aus dunklen Augen und an das schöne, geheimnisvolle Gesicht eines Mörders.
KAPITEL 4
Jenseits der Alpen ging die Sonne auf und legte einen Strahlenkranz um majestätische Felsgiganten. Auf den Gipfeln lag Schnee, und selbst im Tal war es empfindlich kalt. Aura hatte sich schon vor der Ankunft in Zürich dick vermummt, hatte einen Pullover über ihr Kleid gezogen, ihren Schal umgelegt und den Mantel bis oben hin zugeknöpft. Jetzt verwünschte sie sich dafür, daß sie ihre Handschuhe achtlos in einen der Koffer geworfen hatte; unmöglich, ihn in der schaukelnden Kutsche zu öffnen und durchzuwühlen.
Der Kutscher hatte ein langes Gesicht gezogen, als sie ihm ihr Ziel genannt hatte, und er hatte sich mit einigen seiner Kollegen vor dem Bahnhof beraten müssen, um den genauen Weg zum
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