Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
wollen. Am Hals! Großer Gott, hatte er sie wirklich umbringen wollen?
Der nächste Waggon war ein Großraumwagen, wie die meisten auf dieser Strecke. Menschenleer. Keine der Bänke war besetzt.
Aura rannte weiter. Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, mehrfach wäre sie fast gestolpert. Gillian war immer noch hinter ihr, nur wenige Schritte. Er rief ihren Namen, einmal, zweimal, doch sie dachte gar nicht daran, stehenzubleiben.
Verdammt, irgendwo in diesem verfluchten Zug mußte es doch Menschen geben, die ihr helfen konnten!
Noch ein Waggon, wieder in Kabinen unterteilt. Keine Reisenden weit und breit. Die meisten Abteiltüren standen offen.
Sie spürte, daß er sie eingeholt hatte, noch ehe seine ausgestreckte Hand sie berührte. Sie schrie, als sich seine Finger um ihre Schulter krallten. Diesmal würde er sich nicht durch einen einfachen Schlag abwehren lassen. Sie verfluchte ihre abgekauten Fingernägel – zu kurz, um ihm damit die Augen auszukratzen!
Er wirbelte sie herum, immer noch an der Schulter, obgleich er sie auch an den Haaren hätte packen können. Es war fast, als wolle er ihr trotz allem nicht weh tun. Aura vergeudete keine Zeit, sich darüber zu wundern. Ihr Herz pochte so hart, daß es schmerzte. Ihr Atem raste.
Sie trat und schlug nach ihm, versuchte, ihn in den Arm zu beißen. Er aber entging flink ihren Attacken, holte aus, um ihr eine Ohrfeige zu versetzen, ließ die Hand dann aber sinken.
Sie blickte erneut in seine Augen, und was sie darin sah, ließ sie vor Angst fast erstarren. Es war der Wille zu töten. Keine Lust, kein Verlangen. Gillian wollte ihr Leben.
Er schleuderte sie seitlich durch eine offene Abteiltür. Kreischend stürzte sie auf eine der Bänke, mit den Händen zuerst. Ihre Stirn stieß gegen die Rückenlehne, ihr ganzer Körper federte zurück. Abermals ruckte sie herum, wollte auf ihn einschlagen, wollte ihn packen, verletzen, ihn zahlen lassen für das, was er vorhatte.
Aber Gillian war nicht mehr hinter ihr. Er stand draußen auf dem Gang, stützte sich mit beiden Händen im Türrahmen ab und blickte sie eindringlich an. Mit seinen Augen geschah etwas. Sein Blick klärte sich, als schmelze eine Eisschicht von seinen Pupillen.
»Hören Sie auf zu schreien«, verlangte er leise und nicht im geringsten außer Atem. Es war, als hätte die Verfolgungsjagd für ihn gar nicht stattgefunden.
Aura schnaubte verächtlich, stieß sich ab und stürzte ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Ihre Fingerspitzen zielten auf sein Gesicht, doch er wischte ihren Angriff mit einer beiläufigen Bewegung beiseite. Ehe sie sich’s versah, saß sie wieder auf einer der Bänke.
»Was wollen Sie von mir?« brachte sie atemlos hervor. »Warum tun Sie das?«
Gillians Züge verhärteten sich, ein seltsamer Anblick. Vor einigen Minuten noch hatte er so sanft gewirkt, so vertrauenerweckend.
»Leben Sie wohl!« sagte er plötzlich und zog abrupt die Abteiltür zu.
Aura sprang auf. »Was, zum Teufel, tun Sie da?«
Draußen auf dem Flur hielt Gillian mit einer Hand die Tür zu, während er sich mit der anderen den Gürtel aus dem Hosenbund zerrte.
Aura begann, an der Tür zu rütteln. Sie gab einen Spaltbreit nach. Gillian zog den Gürtel um den Außengriff, spannte das Lederband blitzschnell über den schmalen Gang und verknotete das andere Ende am gegenüberliegenden Fensterknauf.
»Lassen Sie mich raus!« brüllte Aura aufgebracht durch den Spalt.
Noch einmal streiften sich ihre Blicke, ein zartes Betasten mit den Augen. Aura hatte das Gefühl, als könne er in ihre Gedanken schauen, mitten in ihr Herz.
Dann, schlagartig, rannte Gillian zurück zum Ende des Zuges, während Aura wie aus einem Traum erwachte, erneut an der Tür zerrte und aus Leibeskräften um Hilfe schrie.
Es kann nicht sein! hämmerte die Erkenntnis durch seinen Schädel. Es kann einfach nicht sein!
Und doch, es war geschehen. Er konnte es nicht. Zum ersten Mal hatte er einen Auftrag nicht zu Ende führen können. Und das Schlimmste daran war: Er hatte nicht einmal das Gefühl, versagt zu haben. Vielmehr redete ihm eine Stimme ein, er habe das Richtige getan. Ganz genau das Richtige!
Wie von Sinnen stürmte er den Gang hinunter, bis er das Abteil erreichte, in dem er mit Aura gesessen hatte. Sein Blick fiel auf ihren verlassenen Platz. Es war nur Minuten her, da war es hier drinnen so friedlich gewesen. Eine seltsame Vertrautheit war zwischen ihnen entstanden, etwas so gänzlich Ungewohntes, Neues.
Der
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