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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gewitter Schloß und Küste hinter sich. Noch immer kauerte Christopher neben Nestors Leiche. Zum ersten Mal war er Herr seines eigenen Schicksals.
    In den frühen Morgenstunden schließlich schleifte er den Toten durchs Dickicht und begrub ihn einsam und schweigend im Kräuterbeet.
    Der Abschied fiel Aura schwerer, als sie erwartet hatte. Sie drückte Sylvette ein letztes Mal an sich, ihren zarten, verletzlichen Körper, und strich ihr noch einmal über die blonden Locken. Das kleine Mädchen küßte sie auf die Wangen, ganz fest, wie sie es sonst nur bei ihrer Mutter tat.
    Auch Charlotte schien bedrückt. Auf dem windgepeitschten Bahnsteig wirkte sie verloren in ihrem flatternden Kleid und dem aufgebauschten Kapuzenmantel. Sie reichte Aura die Hand, bemüht, die Distanz zwischen ihnen nicht zu verletzen. Doch als sich ihre Blicke trafen, fielen sie sich doch noch in die Arme. Aura war nicht wohl dabei, es kam ihr falsch und verlogen vor; zugleich aber überkam sie der Trennungsschmerz mit all seiner Kraft. Die Ringe in ihren Schenkeln brannten, als begänne sich die durchstochene Haut zu entzünden.
    Zuletzt verabschiedete sie sich von Daniel, und zum ersten Mal seit Monaten erwiderte er ihre Umarmung voller Wärme. Sie flüsterte ihm ein Versprechen ins Ohr, und er lächelte scheu, sagte aber nichts darauf. Seine Augen waren gerötet; vielleicht nur vom scharfen Wind, der von der See übers Land fegte.
    Christopher war nicht zu ihrer Verabschiedung erschienen. Aura hatte nichts anderes erwartet. Sie hatte ihm keinen Anlaß gegeben, ihre Abreise zu bedauern.
    Daß ihr Vater nicht mitgekommen war, bekümmerte sie, aber es überraschte sie nicht. Er verließ kaum seinen Speicher, geschweige denn die Insel. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die ihre Erinnerung zurückreichte, hatte er seinen Fuß in ein Boot gesetzt. Nun schickte er sie ohne Abschied fort. Er hatte einen neuen Liebling gefunden. Einen Schüler, durchfuhr es sie verächtlich.
    Neben dem Stationsgebäude scheuten die Pferde, als Lokomotive und Waggons schwarz und lärmend am Bahnsteig einfuhren. Einen Augenblick lang war die ganze Gruppe von dichtem Rauch umhüllt, düster und schwer, dann verzogen sich die Schwaden. Der Kutscher trug ihr Gepäck, zwei große Reisekoffer und eine Tasche, in eines der Abteile, während Aura die letzten Augenblicke mit ihrer Familie verbrachte.
    Schließlich aber ließ sich die Trennung nicht länger aufschieben. Aura stieg die beiden Metallstufen hinauf, warf Daniel einen langen Blick zu, dann eilte sie ins Abteil. Sie öffnete das Fenster und schaute hinaus. Die drei standen dicht beieinander auf dem Bahnsteig, der Kutscher hielt respektvollen Abstand. Sylvette rief ihr zu, sie möge ihren elften Geburtstag in vier Monaten nicht vergessen und ihr viele Briefe schreiben. Aura versprach es und schenkte ihr das fröhlichste Lächeln, das sie jetzt noch zustande brachte.
    Zuletzt ließ sie ihren Blick über den Bahnsteig schweifen. Der einzige andere Reisende, der mit ihnen gewartet hatte, mußte schon eingestiegen sein.
    Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Daniel, ihre Mutter und Sylvette blieben zurück. Sie winkten ihr nach, ehe sie abermals vom Qualm der Lokomotive verschluckt wurden. Die Station wurde kleiner, ein winziger Ziegelbau in der Weite des Küstenlandes. Schon hob er sich kaum noch vom Dünenmeer am Horizont ab.
    Aura war allein im Abteil. Sie suchte unter der tiefen Wolkendecke nach Möwen, doch da oben war nichts als fahle Leere.
    Ganz allein, dachte sie schwermütig. Und schau nur, sogar der Himmel trägt Trauer.
    Gillian passierte ein Abteil ums andere, die alle leer waren, bis er das Mädchen wiedersah. Der hintere Teil des Zuges war wie ausgestorben. Sie schien die einzige Mitreisende zu sein.
    Sie war hübsch, mit ihrem langen schwarzen Haar, das der Wind aus den Spangen gezaust hatte. Hübsch in ihrem Kummer. Gegen seinen Willen berührte ihn ihr Anblick.
    »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
    Sie blickte auf, einen Moment lang verwirrt. »Ja … ja, sicher.«
    Er warf die Tasche ins Gepäcknetz und setzte sich ihr gegenüber mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Verstohlen musterte er ihre Züge, während sie rasch wieder zum Fenster hinausblickte. Er spürte, daß ihr seine Anwesenheit mißfiel, aber sie hatte sich gut unter Kontrolle.
    »Ich fahre nach Österreich«, sagte er ein wenig ungeschickt.
    »Aha«, bemerkte sie ohne Interesse, drehte sich aber zu ihm um. Er wußte genau, was sie

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