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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Augenblick. Was geschah nur mit ihr?
    Seine Pupillen waren ungewöhnlich groß und dunkel. Sie sah, daß seine Hände unruhig auf den Knien wippten. Instinktiv machte sie Fäuste, damit er nicht sah, daß sie an den Nägeln kaute.
    »Sie sagten, Sie seien nur auf der Durchreise.« Ein schwacher Versuch, das Thema zu wechseln. »Woher kommen Sie?«
    Er zögerte einen Moment, dann erzählte er ihr eine unbestimmte Geschichte über etwas Geschäftliches, das ihn in diese Gegend geführt habe. Aura hörte nur halbherzig zu. Lieber beobachtete sie, wie er sprach. Die Art und Weise, wie sich seine geschwungenen Lippen öffneten und schlossen, das flinke Blinzeln seiner Augen. Beides faszinierte sie.
    Völlig unbefangen begann er schließlich davon zu sprechen, daß er seine Eltern nie kennengelernt hatte. Aura dachte lakonisch, daß etwas an dieser Gegend sein mußte, das Waisenkinder magisch anzog. Ihre Mutter hätte ihre Freude an dem Fremden gehabt.
    Nachdem sie sich über eine Stunde miteinander unterhalten hatten, wurde ihr bewußt, daß sie sich noch nicht einmal vorgestellt hatte. Es war ihre erste größere Reise, und sie wußte nicht, ob man gegenüber Bekanntschaften in Eisenbahnabteilen lieber mißtrauisch blieb. Egal, dachte sie, und nannte ihm ihren Namen. Dann fragte sie: »Verraten Sie mir auch, wie Sie heißen?«
    »Gillian«, sagte er und wirkte ein wenig überrumpelt. »Mit hartem G.«
    »Und Ihr Vorname?«
    »Gillian ist mein Vorname.«
    »O, verzeihen Sie. Ich dachte, so heißen nur Frauen.«
    »Im Englischen.« Er lächelte freundlich. »Gillian ist eine Abwandlung von Gilgian, was wiederum die Kurzform ist von – Sie werden es nicht glauben – Ägidius.«
    Aura grinste. »Ägidius? Haben Ihre Pflegeeltern Sie so genannt?«
    »Nur Gillian. Irgendwem hat wahrscheinlich gefallen, daß der Name einen weiblichen Klang hat.« Nach einer Pause sagte er: »Sie haben einen schönen Namen, Aura. Man darf Ihren Eltern zu ihrem guten Geschmack gratulieren.«
    »Alle Menschen haben auch ein, zwei gute Seiten, nicht wahr?«
    Sie bemühte sich, bitter zu klingen, aber in seiner Anwesenheit wollte ihr das nicht recht gelingen. Sie spürte, wie sich ihre Laune mit jeder Minute besserte, beinahe gegen ihren Willen.
    Als sie ihm erneut in die Augen schaute, wandte er den Blick ab. Irgend etwas schien ihm plötzlich Sorgen zu bereiten.
    »Was ist mit Ihnen?« fragte sie. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Doch, doch«, gab er rasch zurück. »Mir kam nur gerade ein Gedanke. An eine Arbeit, die ich noch zu Ende bringen muß.«
    »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, als was Sie arbeiten.«
    Er sah sie an, fast flehend. »Würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, das Fenster zu öffnen?« Seine Stimme klang eigenartig, fast belegt.
    »Natürlich nicht.«
    Sie stand auf und machte sich an den Griffen zu schaffen. Dabei wandte sie ihm den Rücken zu.
    Hinter ihr glitt Gillian auf die Füße. Lautlos, als wäre er ihr Schatten, hob er beide Hände.
    Sie bemerkte die Bewegung erst im letzten Augenblick, als es fast zu spät war. Seine Fingerspitzen berührten bereits das Weiß ihres schlanken Halses, als sie mit einem Ruck herumfuhr.
    Ihre Blicke trafen sich. Unverständnis im Blau ihrer Augen. Dann Panik.
    Die meisten seiner Opfer wehrten sich nicht, wenn sie in sein Gesicht sahen. Erst wenn sie längst in der Falle saßen. Vorher staunten sie nur.
    Doch Aura war anders. Im selben Moment, da sie begriff, was er tat – nein, sie begriff es nicht, aber sie ahnte es –, stieß sie sich mit aller Kraft vom Fenster ab und prallte gegen ihn.
    Gillian verlor überrumpelt das Gleichgewicht, stolperte zurück auf seinen Platz. Seine Rechte schoß vor, packte den Saum ihres Kleides, doch der glatte Stoff entglitt seinen Fingern.
    Aura schrie um Hilfe, während sie die Abteiltür aufstieß. Gillian sprang auf, faßte sie an der Schulter. Wie eine Furie wirbelte das Mädchen herum und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Es war kein allzu schmerzhafter Hieb, aber Gillian war Gegenwehr nicht gewohnt. Erstaunt, fast schockiert ließ er sie abermals los.
    Mit einem Aufschrei taumelte Aura hinaus auf den Gang. Stürmte nach links, in Richtung der Lokomotive. Sie hörte, wie Gillian hinter ihr die Verfolgung aufnahm.
    Sie blickte in jedes der Abteile, die sie passierte. Alle waren leer. Kaum ein Mensch lebte in dieser Gegend, und die allerwenigsten verreisten. Gut möglich, daß der ganze Zug wie ausgestorben war.
    Der Mann hatte sie berühren

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