Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
einen flehenden Blick zu, doch es war bereits zu spät. Der Ruck war zu stark, die Tasche gab nach. Der Verschluß ging auf, und der gesamte Inhalt ergoß sich über die oberen Treppenstufen.
Das folgende Schweigen war bedrohlicher als das schlimmste Geschrei. Niemand sagte einen Ton, nicht einmal Fräulein Braun. Schließlich löste Aura sich aus dem Bann der beiden Frauen, ging in die Hocke und begann geschwind, ihre Sachen auf einen Stapel zu schichten. Der alte Mann setzte die Koffer ab und reichte ihr verschüchtert die leere Tasche.
Aura kauerte auf der obersten Stufe und hatte den Frauen bewußt den Rücken zugekehrt. Sie mied den Blick der Direktorin. Inmitten des Gewirrs aus Büchern, Waschzeug, Bürsten und einem Spiegel entdeckte sie ein gefaltetes Papier; sie wußte genau, daß sie selbst es nicht hineingelegt hatte. Ein Brief von Daniel! Flink ließ sie das Schreiben in der Manteltasche verschwinden. Hoffentlich hatten die anderen es nicht bemerkt!
Im selben Augenblick packte jemand ihre Haare und riß sie mit einem grausamen Ruck nach hinten. Aura ließ fallen, was sie in Händen hielt, und schrie vor Schmerz und Empörung auf. Dabei stolperte sie nach hinten – und fiel genau vor die Füße von Madame de Dion.
Die Direktorin blickte auf sie herab. Noch immer hatte sie Auras langes Haar um die Rechte geschlungen und sah einen Moment lang aus, als wolle sie noch einmal mit aller Gewalt daran reißen. Dann aber ließ sie es los, gab dem Alten einen Wink, das Gepäck endlich in ihr Arbeitszimmer zu bringen, und reichte Aura schließlich die Hand.
»Stehen Sie auf«, zischte sie leise. »Es schickt sich nicht für eine Schülerin meines Internats, vor anderen am Boden zu kriechen.«
Aura glaubte ihr an die Kehle springen zu müssen. Ihre Kopfhaut brannte, als hätte sie den Kopf in Säure getaucht. Der Schmerz machte sie ganz benommen. Trotzdem stand sie auf, nicht zu unbeholfen, wie sie hoffte, und öffnete den Mund, um Einspruch gegen diese Erniedrigung zu erheben.
Doch abermals kam ihr Madame de Dion zuvor. »Fräulein Braun wird Ihnen jetzt ihr Zimmer zeigen«, erklärte sie kalt. »Ich will diesen Vorfall vergessen, wenn es Ihnen recht ist. Ihr Gepäck wird man Ihnen am Nachmittag hinaufbringen.«
Damit drehte sie sich um und schritt dem Alten voran die Treppe hinab. Unten drehte sie sich noch einmal um und hielt ihre knöchrige Hand wie einen Fächer vor ihre Brust. »Und sollte ich Sie nur ein einziges Mal beim Nägelkauen erwischen, werde ich Ihre Finger mit etwas bestreichen lassen, das Sie ganz sicher nicht in den Mund nehmen werden.« Nach diesen Worten verschwand sie im Untergeschoß.
Fräulein Braun trat vor Aura. »Schweigen Sie. Es ist besser so.«
Auf dem Weg zu Auras Zimmer sprachen die beiden kein Wort miteinander.
Ihre Mitbewohnerin hieß Cosima. Sie hatte bereits von dem Vorfall in der Halle gehört, bevor Aura überhaupt das Zimmer betreten hatte. Wie ein Lauffeuer war die Neuigkeit von Auras Ungehorsam durch die Flure gerast. Das Nachrichtennetz im Internat funktionierte hervorragend, es war eines der wenigen Dinge, bei denen die Mädchen fest zusammenhielten.
Einige Minuten später stand Aura am Fenster und blickte durch den schmalen Spalt hinaus ins Gebirge. Nirgends waren Gebäude zu erkennen, nur Felsgipfel, dunkle Wälder und Bergwiesen. Das Sankt-Jakobus-Stift schien ihr mehr und mehr wie ein Gefängnis, darüber konnte selbst die herrliche Landschaft nicht hinwegtäuschen.
Seit Fräulein Braun die beiden Mädchen allein gelassen hatte, bemühte Cosima sich redlich darum, Aura in ein Gespräch zu verwickeln. Sie war ein Jahr jünger als Aura und hatte große grüne Augen, wie man sie manchmal bei Katzen findet; sie wirkten um so größer, da ihr Gesicht klein und zart war, fast koboldhaft. Cosima trug ein weißes Kleid, von dem sich ihr schulterlanges, braunes Haar wie eine dunkle Kapuze abhob. Sie war Norditalienerin, sprach aber fließend Deutsch mit einem leichten Akzent.
»Hast du weiße Kleider?« fragte sie, obwohl Aura ihr den Rücken zugewandt hatte. »Die Direktorin wünscht, daß wir alle Weiß tragen.«
»Und wenn nicht?« Aura wandte sich zu ihr um. »Darf ich dann zurück nach Zürich, um mir neue zu kaufen?«
Cosima lachte und setzte sich auf die Kante ihres Bettes. »Du willst abhauen, nicht wahr? Am Anfang wollte das jede von uns. Aber, glaub mir, wenn du ein paar Tage hier bist, haben sie dir das ausgetrieben. Das Jakobus-Stift gilt als strengste
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