Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
eine Weile durch die verwilderte Gartenanlage, ehe sie im Schatten einer Tannenzeile einen Platz fand, wo sie nicht laufend von anderen Schülerinnen gestört werden würde.
Sie entfaltete das Papier und entdeckte zu ihrer maßlosen Enttäuschung eine Handschrift, die zweifellos nicht Daniel gehörte. Es waren insgesamt fünf Blätter, einseitig mit kleinen, altertümlichen Buchstaben beschrieben.
Sie setzte sich ins feuchte Gras, kümmerte sich nicht darum, daß ihr weißer Rock schmutzig wurde, und begann zu lesen. Die Dämmerung war längst hereingebrochen, und sie mußte sich dicht über das Papier beugen, um die Buchstaben entziffern zu können. Ein eisiger Wind fegte von den Bergen herab, doch Aura bemerkte es kaum. Ihre Gänsehaut rührte nicht vom Wetter. Mit jedem Satz, den sie las, wurde ihr Entsetzen größer. Das Schreiben war offenbar an Gillian gerichtet, an den Fremden aus dem Zug. Doch nicht allein diese Erkenntnis war es, die sie so verstörte. Mehrfach war sie nahe daran, die Blätter in Fetzen zu reißen. Tränen rannen über ihre Wangen, tropften auf das Schreiben und verwischten die Tinte. Doch auch sie vermochten die ungeheuerlichen Anschuldigungen und Eröffnungen darin nicht auszulöschen.
Nestor Institoris und ich kennen uns seit langer Zeit, stand da geschrieben, beinahe länger, als meine Erinnerung zurückreicht. Wir hätten Freunde werden können, aber du weißt, wie es mit Freundschaften gehen kann. Enttäuscht der eine den anderen, können sie schnell in Hass umschlagen, viel schneller als gewöhnliche Bekanntschaften. Wir neigen dazu, einem Menschen, den wir schätzen, einen Fehltritt viel ärger anzurechnen als einem Unbekannten. Wer von uns beiden einen Fehltritt begangen hat, ob Nestor oder ich, nun, darüber sind wir wohl unterschiedlicher Ansicht.
Nach diesen einleitenden Sätzen folgte eine detaillierte Beschreibung des Lebens im Schloß Institoris, Einzelheiten, die nur jemand kennen konnte, der oft dort ein und aus ging. Aura hatte einen Augenblick lang Friedrich in Verdacht, doch dann erinnerte sie sich, daß er und ihr Vater bestimmt niemals Freunde gewesen waren, ganz gleich, wie lange ihre Bekanntschaft zurückliegen mochte. Blieb nur die Möglichkeit, daß jemand aus dem Dorf oder, schlimmer noch, aus der Dienerschaft sie im Auftrag des Unbekannten bespitzelt hatte. Dies erschreckte sie, jedoch nicht so sehr wie das, was nun folgte:
Nestor hat eine Tochter. Er erwartet ungeduldig ihre Volljährigkeit, aus Gründen, die ich sehr wohl nachvollziehen kann. Sie müßte heute siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Nestor wacht eifersüchtig über ihre Jungfräulichkeit, sie ist ihm das kostbarste überhaupt. Sein Stiefsohn muß versucht haben, mit ihr anzubändeln. Ein Fehler, zweifellos. Nestor hat dafür gesorgt, daß er an dem Mädchen keine Freude mehr haben wird. Ein Unfall, tragisch. Und schon war es aus mit den beiden. Sag selbst, hat ein Mann wie Nestor nicht den Tod verdient?
Aura war fassungslos angesichts dieser Worte, und ihr allererster Gedanke war, daß es sich um Lügen handelte. Gemeine, boshafte Lügen. Niemals hätte ihr Vater so etwas getan, nie im Leben! Aber hatte sie nicht auch geglaubt, daß er sie niemals fortschicken würde? Und dennoch hatte er es getan.
Aber Daniels Unfall – ein inszeniertes Verbrechen? Ein Anschlag, ausgeführt in Nestors Auftrag? Aura hätte schreien mögen vor Aufruhr und Empörung. Sie las den Absatz ein zweites und drittes Mal, ehe es ihr allmählich gelang, sich davon zu lösen und mit dem Rest des Schreibens fortzufahren.
Es sollte noch viel schlimmer kommen.
Warum aber ist Nestor so auf die Unberührtheit seiner Erstgeborenen bedacht, fragst du dich? Ich kann mir vorstellen, wie Du im Zug sitzt und Dir den Kopf darüber zerbrichst, mein Lieber. Schon zucken Deine zarten Würgehände, schon steigt die Wut in Dir empor. Du willst ihn töten, nicht wahr? Willst ihn leiden lassen für seine Abscheulichkeiten. Etwa nicht? Oh, ich kenne Dich, Gillian. Ich kenne Deine Gedanken. Du bist so moralisch, trotz Deiner Berufung. Ein Streich Deiner Natur, wie mir scheint.
Nestor sucht nach dem Stein. Ja, es ist die Suche, die uns verbindet. Er ist viele Wege gegangen, hat zahllose Richtungen eingeschlagen. Genau wie ich. Und seine größte Hoffnung dabei ist seine Tochter.
Laß mich Dich mit ein wenig Theoretischem langweilen. Im siebzehnten Jahrhundert lebte ein Mann namens Michael Majer. Er war Rosenkreuzer, außerdem der
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