Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Mädchenschule weit und breit – nur deshalb haben deine Eltern dich hergeschickt.«
Aura dachte an die Ringe in ihren Schenkeln und sagte sich, daß sich ihr Widerwillen gegen dieses Gemäuer niemals legen würde. Stechen und Ziehen würden sie an diesen Schwur erinnern.
»Ist es wenigstens erlaubt, hinaus in den Park zu gehen?« fragte sie und setzte sich auf ihr Bett. Das Zimmer war nicht groß, und zwischen den beiden Betten waren kaum mehr zwei Schritte Abstand. Auf dem Steinboden lag eine Art Reisigmatte, und in einer Ecke stand ein Kohleofen, der knisternde Wärme verbreitete. Wenigstens ließ man sie hier drinnen nicht erfrieren.
»Wir können in den Park gehen, so oft wir wollen«, sagte Cosima, »außerhalb der Unterrichtszeiten, heißt das. Nach Absprache mit den Lehrerinnen dürfen wir auch weiter raus. Von hier haut sowieso niemand ab, der halbwegs bei Verstand ist, dafür liegt das Internat viel zu abgelegen. Zu Fuß braucht man mehr als einen Tag, um zurück in die Stadt zu kommen, und auch nur, wenn man sich beeilt. Außerdem verzweigt sich der Weg an mehreren Stellen. Die Gefahr, sich zu verlaufen, ist viel zu groß.«
Aura horchte auf. »Das klingt, als hättest du es schon mal versucht?«
»Ich nicht. Aber zwei von den älteren Mädchen – du wirst sie bestimmt noch kennenlernen – wollten von hier verschwinden, vor einem Jahr. Holzfäller haben sie einen Tag später irgendwo in den Wäldern aufgestöbert, halb erfroren. Es hat auch schon welche gegeben, die nie wieder gefunden wurden. Sie verschwanden einfach.«
Cosima setzte sich im Schneidersitz auf die Bettdecke. Ihr weißes Kleid spannte über den Knien. »Wahrscheinlich ist das nur Gerede der Lehrerinnen, um uns Angst zu machen. Ich glaube, die Eltern der Mädchen haben sie hier rausgeholt, und keiner will es zugeben.«
»Meine holen mich bestimmt nicht raus.« Aura ließ sich mit dem Rücken aufs Bett fallen und starrte bedrückt zur Decke. Noch immer trieb sie die Vorstellung zur Weißglut, daß die Direktorin in diesem Augenblick ihre Koffer durchstöberte.
»Wie lange sollst du hier bleiben?« fragte Cosima.
»Über drei Jahre, bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag.«
»Bis dahin sind’s bei mir noch vier«, entgegnete Cosima mit einem tiefen Seufzer. »Und zwei Jahre bin ich schon hier.«
»Wie kommt es, daß in deinem Zimmer ein Bett frei ist?«
»Der Monseigneur hat Karla verlegt. Sie hatte sich von ihrer älteren Schwester ein paar Bücher reinschmuggeln lassen. Fanny Hill, Die Nichten der Frau Oberst und so was. Schweinkram, eben«, ergänzte sie schulterzuckend.
»Wer ist der Monseigneur?« fragte Aura verwundert.
»Oh, das kannst du nicht wissen.« Cosima kicherte in kindlichem Vergnügen. »So nennen wir Madame de Dion. Sie hat eine Stimme wie ein Mann, findest du nicht?« Sie senkte die Stimme und fügte flüsternd hinzu: »Und keinen Busen.«
»Ein Spitzname ist eine ziemlich armselige Rache für das, was sie uns antut«, fand Aura. »Wie hat sie das mit den Büchern eigentlich erfahren?«
»Karla hat kein großes Geheimnis daraus gemacht. Irgendwer muß sie dann verpetzt haben. Auf jeden Fall wurde plötzlich unser Zimmer durchsucht.«
Eine Spur von Mißtrauen furchte Auras Stirn. »Hast du auch in den Büchern gelesen?«
Cosima schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich? Ach was. Karla hat mir ein, zwei Stellen daraus vorgelesen.« Sie kicherte wieder. »Liebe Güte …« Plötzlich begriff sie, worauf Aura hinauswollte. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich irgendwas verraten habe, oder?« Sie klang jetzt schnippisch, ein wenig wütend sogar.
»Nein«, gab Aura besänftigend zurück. »Natürlich nicht.« Sie blickte wieder nachdenklich nach oben. Über ihr an der Wand klebte eine zerquetschte Mücke.
Ein versöhnliches Lächeln war auf Cosimas Gesicht erschienen.
»Schon gut. Laß uns Freundinnen sein, ja?«
»Klar.« Aura erwiderte ihren Blick und fand darin einen regelrechten Hunger nach Zuneigung. Das also macht dieses Internat aus uns, dachte sie, traurige kleine Mädchen auf der Suche nach ein wenig Wärme.
Sie stand auf, umarmte Cosima herzlich und sagte: »Freundinnen.«
Das Mädchen schmiegte sich einen Moment lang an sie, dann lösten sie sich voneinander. Auras Blick fiel auf ihren Mantel, den sie über einen Bettpfosten geworfen hatte. Sie nahm ihn auf und durchsuchte ihn nach dem Schreiben, das sie in ihrer Reisetasche gefunden hatte. Schließlich zog sie es hervor, betrachtete es eine
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