Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Weile und überlegte, ob sie es auseinanderfalten und lesen sollte. Daniel hatte ihr früher oft Briefe geschrieben, aber das war über ein halbes Jahr her.
Nein, entschied sie schließlich, ich lese ihn, wenn ich allein bin; falls es so was wie Alleinsein hier überhaupt gibt. Außerdem war sie viel zu müde und durcheinander. Sie blickte auf und sah, daß Cosima lächelte. »Hattest du draußen einen Freund?« fragte das Mädchen mit einem Nicken in Richtung des gefalteten Papiers.
»Das ist lange her«, sagte Aura wehmütig und schob den Zettel unter ihr Kopfkissen, nur um sich sogleich an die Durchsuchung des Zimmers zu erinnern. Sie zog das Schreiben wieder hervor, bückte sich und steckte es in einen ihrer hohen Schuhe.
»Du solltest dich jetzt ausruhen«, sagte Cosima sanft. »Der Monseigneur gibt allen Neuankömmlingen am ersten Nachmittag frei.«
Aura hob unentschlossen die Schultern, sagte sich dann aber, daß ihr ein wenig Schlaf guttun würde. Schnell legte sie ihre Kleidung ab und schlüpfte unter die Decke. Ihre Finger tasteten nach den Ringen an ihren Schenkeln. Sie fühlten sich kalt an, obwohl ihr ganzer Körper zu glühen schien.
Cosima beobachtete schweigend, wie sie einschlief.
Als sie geweckt wurden, war es draußen noch dunkel. Cosima schwang gähnend ihre dünnen Beine über die Bettkante. Sie bemerkte, daß Aura die Augen aufgeschlagen hatte, und grinste.
»Du hast den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht geschlafen.«
»Wie spät ist es?« fragte Aura und streckte sich.
»Halb sechs. Die übliche Weckzeit hier im Stift.«
Auf einen Schlag kehrte die Erinnerung an ihre Lage zurück, an das Internat und an die Direktorin. »Großartig«, stöhnte sie und setzte sich auf. Neben dem Bett stand ihr Gepäck; sie hatte nicht bemerkt, daß es gebracht worden war.
Wenig später folgte sie Cosima zum Waschraum, wo sich bereits ein knappes Dutzend schnatternder Mädchen aufhielt. Die meisten waren jünger als Aura, jünger noch als Cosima. Einige betrachteten die Neue mit verstohlenen Blicken, andere kamen auf sie zu und stellten sich vor. Aura gab sich Mühe, ihre Herzlichkeit zu erwidern.
Als sie und Cosima zurück ins Zimmer kamen, war Auras erster Gedanke, nachzuprüfen, ob Daniels Brief noch in ihrem Schuh steckte. Aber sie wollte Cosima nicht ein zweites Mal mit ihrem Argwohn vor den Kopf stoßen, und so geduldete sie sich, bis sie fertig angezogen war. Die Ordnung in ihren Koffern war unversehrt, aber sie zweifelte nicht, daß die Direktorin ihre Drohung wahr gemacht hatte. Daß die Durchsuchung keine Spuren hinterlassen hatte, beunruhigte Aura nur noch mehr.
Während sie ihre Schnürsenkel lockerte, um in die Schuhe zu schlüpfen, sah sie, daß das Papier noch an Ort und Stelle war. Ein Glück! Sie schob es seitlich neben ihren rechten Knöchel, dann folgte sie Cosima zum Unterricht. Sie hoffte, daß sie am Nachmittag endlich Zeit finden würde, den Brief zu lesen.
Die Schülerinnen des Sankt-Jakobus-Stifts verteilten sich auf sechs Klassen zu jeweils zehn bis zwölf Mädchen. Die Klassenleiterinnen unterrichteten sämtliche Fächer, abgesehen vom Turnen; hierfür wurden mehrere Klassen zusammengeschlossen. Männer duldete man nicht im Internat, mit Ausnahme Mareks, des alten Hausdieners. Die übrigen Hilfsarbeiten wurden von Köchinnen und Wäscherinnen verrichtet. Väter hatten natürlich freies Besuchsrecht – in gesonderten Räumen, nicht im Wohntrakt der Mädchen –, Brüder aber wurden ungern gesehen.
All das erfuhr Aura innerhalb der ersten Stunden. Fräulein Braun nutzte die Gelegenheit, ihrer ganzen Klasse einen achtzigminütigen Sermon über das Leben im Sankt-Jakobus-Stift, über damenhaftes Benehmen und die guten Sitten zu halten. Cosima ging in eine andere Klasse, und das wohl nicht nur, weil sie jünger war. Vielmehr hatte Aura den Verdacht, daß Madame de Dion ganz bewußt ein vierundzwanzigstündiges Beisammensein einzelner Schülerinnen verhindern wollte. Diese Annahme wurde von Auras Pultnachbarinnen bestätigt. Auch ihre Zimmergenossinnen besuchten andere Klassen.
Der Unterricht endete um drei Uhr am Nachmittag, danach waren zusätzlich zu den regulären Turnstunden sportliche Betätigungen vorgeschrieben. Erst um kurz vor fünf wurden die Mädchen aus der Obhut ihrer Lehrerinnen entlassen und durften sich die Zeit mit Lesen in der Bibliothek, Kakaotrinken und Spaziergängen im Park vertreiben.
Aura beschloß, Daniels Brief im Freien zu lesen. Sie streifte
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