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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Leben gelassen, gegen den ausdrücklichen Befehl des Unbekannten.
    Aura stemmte sich auf die Beine. Ihre Knie waren weich und zittrig. Im Dunkeln tastete sie nach den verstreuten Blättern, sammelte sie auf. Sie würde sie heute abend im Ofen verbrennen. Und dann, bei nächster Gelegenheit, mußte sie von hier verschwinden. Mußte zurück ins Schloß. Sie würde ihren Vater zur Rede stellen, für alles, was er getan hatte und noch hatte tun wollen.
    Vorausgesetzt, er war noch am Leben.
    Der Wiener Westbahnhof lag am Schnittpunkt dreier Bezirke – Fünfhaus, Neubau und Mariahilf –, doch strömten die Menschen aus dem ganzen Stadtgebiet hierher. Hier begannen und endeten die meisten Fernverbindungen, und entsprechend war der Trubel der Reisenden und Angehörigen, als Gillian hinaus auf den Bahnsteig sprang. Er schaute sich um und erkannte schon von weitem die beiden Gestalten, die ihn erwarteten.
    Stein und Bein trugen lange Mäntel in unterschiedlichen Farben, einer Grau, der andere Braun, wohl in dem verzweifelten Versuch, sich voneinander zu unterscheiden. Das Vorhaben war so erfolglos wie lächerlich. Ihre identischen Gesichter, lang und knöchern unter schneeweißem Haar, hoben sie aus der Masse hervor wie zwei Leichen inmitten einer Ballgesellschaft.
    Gillian trat den Zwillingen mit klopfendem Herzen entgegen. Er war bislang nicht sicher gewesen, ob sein Telegramm Lysander erreicht hatte – er hatte es in München zu Händen der Burghauptmannschaft aufgegeben, im schalen Vertrauen, daß die bestochenen Hofburgwächter es an den geheimen Mieter in ihren Kellergewölben weiterreichen würden. Jetzt aber war er überrascht, daß die Nachricht ihr Ziel tatsächlich erreicht hatte. Nichts hatte sich in den letzten Jahren verändert: Lysanders Einfluß war grenzenlos.
    »Der Herr ist nicht erfreut«, sagte der Zwilling, den Gillian für Stein hielt.
    »Er hat versagt, der hübsche Mädchenjunge«, ergänzte Bein.
    Gillian zwang sich zur Beherrschung. Er ging an den beiden Männern vorbei, in der Gewißheit, daß sie ihm folgen würden. »Nestor Institoris lebt nicht mehr. So, wie es Lysanders Wunsch war.«
    Eine junge Frau blickte sich erschrocken um und zog ihr Kind zur Seite. Erst befürchtete Gillian, sie hätte gehört, was er gesagt hatte. Dann aber wurde ihm klar, daß es die Zwillinge waren, die sie fürchtete. Warum konnte Lysander bei all seinem Reichtum nicht unauffälligere Lakaien anheuern?
    Stein legte eine Hand auf Gillians Schulter und hielt ihn auf. Gillian drehte sich um und funkelte den Zwilling bösartig an. Erstaunlicherweise zog Stein die Hand zurück, doch seine Mundwinkel zuckten verächtlich, als er statt Gillian seinen Bruder ansah.
    »Es war seine Aufgabe, sich um Nestor und die Tochter zu kümmern«, sagte Stein.
    »Er ist gescheitert«, bemerkte Bein überflüssigerweise.
    Soviel hatte Gillian Lysander in seinem Telegramm mitgeteilt. Verschwiegen hatte er freilich die genauen Umstände.
    »Das Mädchen ist mir entkommen. Der Zug war voller Menschen. Was hätte ich tun sollen?« In seinen Zorn mischte sich leise Unsicherheit. Er hatte angenommen, Lysander würde sich mit dem Tod des alten Institoris zufriedengeben, er hatte geglaubt, das Schlimmste, was passieren könnte, war, daß Lysander einen anderen Mörder auf Aura ansetzen würde.
    Was wirst du dann tun? Diese Frage hatte er sich hundertmal gestellt. Würde er zulassen, daß jemand dem Mädchen ein Leid antat?
    »Wir sind nicht hier, um Ratschläge zu geben«, sagte Stein regungslos zu Bein. »Wir wollen ihn nur zu Lysander bringen.«
    »Er erwartet ihn, den hübschen Mädchenjungen«, fügte Bein mit einem Grinsen hinzu.
    Gillians Hand zuckte vor, packte den Zwilling am Kragen. »Nenn mich noch einmal so!« fauchte er drohend. »Komm schon, sag es noch einmal!« Einen Augenblick lang war er entschlossen, Bein zu töten, hier und sofort.
    Aber Beins Grinsen wurde nur noch breiter. Er sagte kein Wort, wartete nur ab, bis Gillians Wut abgekühlt war und er seine Hand zurückzog. Mit einer beiläufigen Handbewegung strich der Diener seinen Mantelkragen glatt und ging voraus. »Die Kutsche wartet vor dem Bahnhof.«
    Stein bedeutete Gillian mit einem Nicken, seinem Bruder zu folgen. Er tat es, wenn auch voller Widerwillen.
    Kurz darauf saß er mit den beiden weißhaarigen Vogelscheuchen in einer Kutsche. Vor den Fenstern hingen samtrote Vorhänge, rundum befestigt und straff gespannt, damit sie auch bei Schlaglöchern nicht zur Seite

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