Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
wippten. Der Kutscher trug eine Uniform, die ihn als Bediensteten der Hofburg auswies. Auf den Türen prangte das kaiserliche Wappen.
Stein und Bein saßen Gillian gegenüber. Beide hatten ihre Hände in den Manteltaschen vergraben. Gillian spürte, wie eine klamme Kälte nach seinem Herzen tastete. Natürlich war ihm klar, daß Lysander über den Fehlschlag nicht glücklich sein konnte. Aber immerhin hatte Gillian Nestor getötet – und das war, nach allem, was er wußte, Lysanders Hauptanliegen gewesen. Jetzt aber beschlichen ihn leise Zweifel. Hatten die Zwillinge den Auftrag, ihn für Auras Überleben zu bestrafen? Hatten sie ihn nur abgeholt, um ihn umzubringen?
Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Die verschlagenen Mienen der beiden taten ein übriges, ihn das Schlimmste befürchten zu lassen.
Gillian versuchte, den Vorhang an einer Ecke zu lockern, um nach draußen zu blicken, doch die Haken saßen fest, er hätte einen abreißen müssen. Was, wenn sie gar nicht zur Hofburg fuhren, sondern irgendwohin, wo sie ungestört waren?
Stein und Bein waren keine allzu starken Männer, wenigstens sahen sie nicht so aus. Ihre stelzenhaften Bewegungen ließen sie unbeholfen erscheinen. Und doch, sie waren gefährlich, selbst für einen Mörder wie Gillian. Er machte nicht wie manch anderer den Fehler, die beiden zu unterschätzen.
Die Kutsche klapperte über das Wiener Pflaster, und von draußen drang dumpf der Straßenlärm herein. Wenigstens schienen sie sich noch immer im Zentrum zu befinden. Vielleicht waren sie ja doch unterwegs zur Hofburg, und Gillian litt unter Verfolgungswahn.
»Wann erwartet mich Lysander?« fragte er in der Hoffnung auf ein verräterisches Zeichen.
Stein wandte sich an Bein. »Der Herr will ihn sofort sehen, nicht wahr?«
»Ja«, pflichtete sein Bruder nickend bei, »sofort.«
Lysander hatte viele schlechte Eigenschaften, mehr, als Gillian an Fingern und Zehen hätte abzählen können, doch Ungeduld hatte seines Wissens nie dazugehört. Er war immer ein Taktiker gewesen, jemand, der für Jahre im voraus plante und nichts überstürzte. Was war geschehen, daß er es jetzt so eilig hatte? So eilig, daß er Gillian möglicherweise gar nicht mehr anhören, sondern ihn sofort beseitigen lassen wollte?
Schluß jetzt! durchfuhr es Gillian in plötzlichem Zorn. Er hatte genug von wilden Spekulationen. Wenn Lysander mit ihm sprechen wollte, dann nach Gillians Spielregeln.
Seine Hand zuckte zum Türgriff, riß daran. Der Riegel löste sich, die Tür klappte in voller Fahrt nach außen. Ehe Bein, der dem Ausstieg am nächsten saß, reagieren konnte, hatte Gillian ihm bereits die Faust ins Gesicht geschlagen. Mit Genugtuung registrierte er, daß das Gebiß des Zwillings knirschte. Bein schrie auf, spuckte in die offene Hand – und starrte entgeistert auf zwei halbe Schneidezähne. Gillian nutzte den Augenblick, schob sich an dem wimmernden Zwilling vorbei und sprang aus der fahrenden Kutsche.
Beim Versuch, sich abzurollen, prallte er mit der rechten Schulter schmerzhaft aufs Pflaster. Schlimmer noch: Aus der Gegenrichtung raste eine zweite Kutsche heran. Es gelang ihm gerade noch, sich zur Seite zu werfen, da donnerte das Gefährt auch schon an ihm vorüber.
Im Aufspringen sah er, wie die kaiserliche Kutsche in zehn Metern Entfernung scharf zum Stehen kam. Die Pferde wieherten vor Empörung. Stein und Bein, der eine mit der Hand vorm Mund, staksten ins Freie und rannten auf Gillian zu.
Am Straßenrand hatten fliegende Händler ihre Stände aufgeschlagen. Allein das war Beweis genug, daß das Ziel der Kutsche nicht die Hofburg war – auf dem Weg dorthin gab es keine Marktstraßen.
Gillian taumelte mit schmerzender Schulter durch die Auslagen eines Tuchhändlers. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Stein und Bein jetzt Revolver in ihren Händen hielten. Aus Beins Mundwinkeln zogen sich Blutfäden bis hinab zum Hemdkragen. Rechts und links der Zwillinge sprangen die Menschen beiseite, Händler gingen hinter ihren Ständen in Deckung. Aufgrund der kaiserlichen Kutsche mußte man die beiden für Polizisten halten; Gillian dagegen galt jedem als Verbrecher. Schon trafen ihn angstvolle Blicke, Männer und Frauen wichen ihm gleichermaßen aus, von der Furcht befallen, er könne sie als Geiseln nehmen.
Noch wagten die Zwillinge nicht, auf ihn zu schießen, aber ihm war klar, daß sie damit nicht lange warten würden. Es scherte sie nicht, wenn Unbeteiligte dabei verletzt
Weitere Kostenlose Bücher