Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
jedesmal auf, wenn er sich in Nestors Bibliothek begab. Im Licht der Bleiglasfenster studierte er die Titel in den endlosen Regalreihen, suchte sich einzelne Bände heraus und nahm sie mit hinüber in den Dachgarten. Auch dort las er die meisten davon mit dem Helm auf dem Kopf; nur manchmal, wenn er gar zu sehr darunter schwitzte und seine Augen von der stickigen Luft zu tränen begannen, verzichtete er darauf und band sich statt dessen ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, das die Wirkung des Buchbinderleims zwar nicht vollkommen aufhob, wohl aber abschwächte.
Er hatte in den vergangenen zwei Wochen so viel gelesen wie nie zuvor in seinem Leben, in Büchern, deren Papier vergilbt und brüchig war, deren Buchstaben dünn und manchmal gar handgeschrieben waren, in Bänden, von denen einige so schwer waren, daß er immer nur einen auf einmal tragen konnte. Ein Großteil war in Latein verfaßt, was für einen gewöhnlichen Waisenjungen ein unüberwindliches Hindernis gewesen wäre. Christopher aber hatte unter Bruder Markus das Lateinische studiert. Er beherrschte es keineswegs perfekt, aber doch gut genug, um die meisten Sätze entschlüsseln zu können. Er las keines der Bücher von vorne bis hinten, suchte sich vielmehr die interessantesten Stellen heraus und verschaffte sich so einen groben Überblick über das, was Nestor hier oben getan hatte.
Allmählich begann er, einige der Versuchsanordnungen zu begreifen, erfuhr, was sich hinter manch geheimnisvollen Beschriftungen verbarg, ja, er löste sogar einige der Rätsel des Athanor. Der Ofen, das war die oberste Regel, mußte stets warm gehalten werden, niemals durfte das Feuer verlöschen, auch dann nicht, wenn der Kessel unbenutzt blieb. Christopher verbrachte so manche Stunde mit Kohlenschaufeln, vor allem am Morgen, bevor er sich zum gemeinsamen Unterricht mit Daniel und Sylvette begab. Er hielt seine Aktivitäten auf dem Dachboden vor den anderen geheim. Daniel mochte ahnen, daß Christopher seine gesamte Freizeit hier oben verbrachte, doch beließ er es bei argwöhnischen Blicken und sprach ihn nicht darauf an. Die beiden Stiefbrüder redeten nie miteinander. Seit Aura fort war, war ihr Verhältnis noch kühler, feindseliger geworden.
Anders war Christophers Verhältnis zu Sylvette. Die Kleine sah zu ihm auf, nicht ehrfürchtig, sondern in einer Art kindlicher Schwärmerei. Sie akzeptierte ihn mehr und mehr als Bruder und engen Freund, sie wandte sich an ihn, wenn die Aufgaben des Lehrers ihr Schwierigkeiten bereiteten, und einmal bat sie ihn sogar, mit ihr eine Ruderpartie rund ums Schloß zu unternehmen. Da auch er das Mädchen mochte und sich recht wohl in der Rolle des großen Bruders fühlte, willigte er ein – innerlich zwar widerstrebend, weil ihm die Zeit später im Laboratorium fehlen würde, nach außen hin aber fröhlich und vergnügt. An jenem Nachmittag gestand sie ihm einen Traum: Sie wollte statt ihrer blonden Locken schwarzes Haar haben, so wie ihre Mutter und ihre Schwester. Christopher versuchte, ihr diesen Wunsch auszureden, sie aber ließ sich nicht davon abbringen. Von jenem Tag an verstanden sie sich noch besser, und manchmal hatte Christopher den Eindruck, daß seine Stiefmutter das gute Einvernehmen zwischen ihm und der Kleinen mit einer gewissen Eifersucht beäugte.
Überhaupt hatte Charlotte sich seit Auras Abreise verändert. Noch immer war sie um ein gepflegtes Familienleben bemüht, sie bestand auf gemeinsamen Mahlzeiten mit ihren Kindern, beharrte auf der täglichen Teestunde und umsorgte die drei mit zärtlicher Zuneigung. Und doch, etwas war anders geworden. Irgend etwas schien sie zu bedrücken, und schließlich befürchtete Christopher gar, Charlotte könne etwas von Nestors Verschwinden bemerkt haben. Vielleicht hatte der Alte sie ja doch in mancher Nacht in ihrem Zimmer besucht? Vermißte sie ihn jetzt, und bestand gar die Gefahr, daß sie Einlaß zum Dachboden verlangen würde?
Christophers Befürchtungen wurden zerstreut, als Charlotte während einer Teestunde im Grünen Salon, einem ihrer Gesellschaftsräume im Ostflügel, gestand, daß es Auras Abwesenheit war, die ihr zu schaffen machte. Sie seien im Streit voneinander geschieden, und Aura sei in der Gewißheit abgereist, daß sie ihre Verbannung ins Internat Charlotte zu verdanken habe; dabei sei doch Nestor auf diesen Einfall gekommen, und niemand, nicht einmal Charlotte selbst, wisse, was dabei in seinem Schädel vorgegangen sei. Christopher hörte diese Sorgen
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