Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
diesem Abend ihren Lauf.
Christopher öffnete eilig die erstbeste Tür zu seiner Linken und schlüpfte hindurch. Wenig später beobachtete er durch einen Spalt, wie Charlotte den Gang hinunterging, neben ihr der gute Freund des Hauses, Friedrich von Vehse. Er mußte im Laufe des Tages eingetroffen sein. Der Freiherr hatte seine rechte Hand höchst unschicklich auf das Hinterteil der Hausherrin gelegt, eine Geste, die wenig Zweifel am tatsächlichen Grad ihrer Vertrautheit ließ.
Christophers erste Empfindung war Staunen und eine gewisse peinliche Berührtheit, gefolgt von dem Gedanken, daß ihn Charlottes Treiben hinter dem Rücken der Familie eigentlich nichts anging. Dann aber packte ihn die alte Neugier, gepaart mit der vagen Ahnung, daß ihm das, was er würde beobachten können, später einmal von Nutzen sein mochte.
So folgte er den beiden unbemerkt durch den Ostflügel, bis sie eine doppelflügelige, mit zwei eingelassenen Kreuzen geschmückte Tür erreichten – der Eingang der Kapelle, die er bisher nur von außen gesehen hatte. Die beiden blieben stehen, und Friedrich schaute sich wachsam um. Beinahe hätte er dabei Christopher entdeckt, wäre dieser nicht blitzschnell in den Schatten eines Schrankes zurückgewichen. Friedrich öffnete die Tür, er und Charlotte schlüpften hindurch, dann fiel das Schloß wieder zu.
Christophers Gedanken rasten vor Aufregung. Eilig pirschte er den beiden nach und legte ein Ohr ans Holz. Er hörte Charlotte im Inneren abermals kichern, dann ertönte ein Knirschen, gefolgt von Schritten auf Stein. Schließlich herrschte Ruhe. Keine Stimmen, keine Laute mehr.
Christopher fürchtete, er könne die beiden bei etwas stören, das allen dreien höchst unangenehm sein würde, doch seine Neugier war trotz allem stärker. Er wartete eine halbe Minute, dann drückte er die riesige Messingklinke nach unten und schaute erwartungsvoll durch den Türspalt in die Kapelle.
Sie war nicht allzu groß, besaß kaum die doppelte Fläche des Eßzimmers. Rechts und links standen mehrere Reihen uralter Holzbänke, an der Stirnseite erhob sich auf einem steinernen Podest ein Altar. Die Fenster waren mindestens zwei Meter hoch. Es gab insgesamt vier. Sie alle waren aus Bleiglas und zeigten biblische Motive.
Christopher sah auf den ersten Blick, daß die Kapelle leer war. Es gab hier drinnen keine Verstecke, es sei denn, Charlotte und Friedrich hätten sich auf dem kalten Steinboden jenseits des Altars verkrochen.
Ein einzelnes Licht brannte, eine Öllampe. Sie stand zu Füßen des Altars, neben einer quadratischen Öffnung im Boden. Darunter klaffte ein schwarzer Abgrund.
Vorsichtig schlich Christopher sich an den Rand der Falltür und blickte hinab. Eine Treppe führte steil nach unten und verschwand nach wenigen Schritten in der Finsternis.
Dies war der Augenblick zur Umkehr, das war Christopher klar, doch abermals entschied er sich gegen die Vernunft und für seine Wißbegierde. Er hob die Öllampe auf, die Friedrich wohl als Wegzeichen zurückgelassen hatte, und machte sich auf leisen Sohlen an den Abstieg. Eisige Kälte wehte ihm entgegen und trug den erdigen Geruch von nassem Gestein heran. Dies mußte einer der beiden Geheimgänge unter dem Meer sein, von denen Nestor ihm am Tag vor seinem Tod erzählt hatte; einer jener Stollen, die die Piraten einst als Fluchtwege benutzt hatten.
Die Treppe führte etwa zehn Meter in die Tiefe, und immer noch wurde es kälter. Feuchtigkeit glitzerte an den Wänden, wenn der Schein der Lampe über sie hinweggeisterte. Schillernde Schimmelpolster bedeckten den Fels an vielen Stellen. Christopher wagte gar nicht erst, sich das Getier auszumalen, das sich in Ecken und Winkeln tummeln mochte.
Die letzte Stufe endete am Boden eines Stollens, der in gerader Linie fort in die Dunkelheit führte. Die Decke war ungefähr zwei Meter hoch. Alle vier oder fünf Schritte wurde das Gestein durch Balken gestützt.
Bevor Christopher seinen Weg fortsetzte, horchte er noch einmal auf Stimmen in der Ferne, doch Charlotte und Friedrich waren nicht mehr zu hören. Auch hörte er keine Schritte. Entweder waren sie stehengeblieben, oder aber der Gang war kürzer, als es in der Finsternis den Anschein hatte.
Nun gut, sagte er sich, du hast es begonnen, also bring es auch zu Ende. Seine Finger krampften sich fester um die Lampe, als könne sie ihm als Waffe gegen unbekannte Gefahren dienen, dann folgte er dem Stollen tiefer unters Meer. Die Vorstellung, daß über ihm
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