Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
mit Erleichterung, befreiten sie ihn doch von der dauernden Furcht, sein Geheimnis könne entdeckt werden.
An den Nachmittagen und Abenden verstärkte er seine Bemühungen, die Rätsel des Dachgartens zu erforschen, und gab sich Mühe, mehr über die Pflege der tropischen Pflanzen zu lernen. Erst konnte er in Nestors Regalen kein botanisches Nachschlagewerk finden, und so bat er Sylvette, ihm eines aus der Familienbibliothek im Westflügel zu besorgen. Sie kam dieser Bitte eilfertig nach, doch zu seiner Enttäuschung entdeckte er darin nur einen geringen Teil jener Gewächse, die unter der Glaskuppel des Dachgartens wucherten.
So war er gezwungen, Nestors Privatbibliothek noch einmal nach entsprechender Literatur zu durchforsten, und nach mehreren Anläufen fand er endlich ein Werk, das sich mit alchimistischer Pflanzenkunde befaßte. Es nannte sich schlicht Grünes Leben, doch dahinter verbarg sich manch tiefere Bedeutung. Denn das Leben, von dem hier die Rede war, war das ewige und hatte nichts mit gewöhnlicher Botanik zu tun.
In dem Buch drehte sich alles um jene seltenen, teils gar ausgestorbenen Pflanzen, die den Alchimisten als Grundlage ihrer Versuche dienen sollten. Von allerlei Wurzeln war die Rede, von Gewächsen in der Tiefe des Meeres und in einem Fall sogar von einer blauen Efeuart, die auf den Bergen des Mondes zu finden sei. Christopher war drauf und dran, den Band als Unfug beiseite zu legen, als er unverhofft auf ein Kapitel stieß, das jemand, höchstwahrscheinlich Nestor, mit roter Tinte markiert hatte.
Zu seinem Erstaunen ging es darin nicht um Aufzucht und Pflege einer Pflanze. Vielmehr wurde hier eine alte Legende wiedergegeben, ein Auszug aus den Abenteuern des Gilgamesch. Erst achtlos, dann immer gebannter, begann Christopher, die zwei oder drei angestrichenen Seiten zu lesen.
Demnach hatte Gilgamesch, der mächtige König von Uruk, einst bei einem Kampf im Lande Sumer seinen treuen Gefährten Enkidu verloren. Der Freund starb vor seinen Augen, und sogleich befielen den König tiefe Trauer und die Angst vor dem eigenen Tod. So kam es, daß er sich auf die Suche nach dem legendären Lebenskraut machte. Auf seinen gefahrvollen Wegen traf er auch den Urahnen des Menschengeschlechtes, Utnapischtim. Jener war als einziger Überlebender der Sintflut von den Göttern begünstigt worden: Sie hatten ihm und seiner Frau die Unsterblichkeit verliehen. Utnapischtim stellte Gilgamesch auf die Probe. Wenn es dem König gelänge, sechs Tage und sieben Nächte ohne Schlaf auszukommen, sollte auch er in die Reihen der ewig Lebenden aufgenommen werden. Doch Gilgamesch scheiterte und mußte das unsterbliche Paar verlassen.
In der Tiefe des Apsu aber, im Urozean, gelang es dem König schließlich doch noch, das Lebenskraut zu finden, ein zartes Pflänzchen mit dem Namen Als-Greis-wird-derMensch-wieder-jung. Gilgamesch war außer sich vor Freude und wollte das Kraut mit in seine Heimat Uruk nehmen, um auch andere daran teilhaben zu lassen. Er wußte: Sieben Jahre brauchte das Kraut, um seine volle Kraft zu entwickeln, und sieben Jahre würde auch seine Reise dauern. Als er aber kurz vor seinem Ziel ein Bad in einem einsamen Gewässer nahm, kroch eine Schlange heran und vertilgte das Kraut bis aufs letzte Blatt. Das Reptil häutete sich und schlängelte verjüngt von dannen, womit sie die Menschheit zum zweiten Mal um das ewige Leben brachte – wie schon im Garten Eden, als sie die sündige Eva verführte.
Auf diese Nacherzählung der Legende folgte eine vage Beschreibung, unter welchen klimatischen Bedingungen es dennoch gelingen könne, das lebensspendende Gilgamesch-Kraut heranzuziehen. Und da begriff Christopher, daß Nestor nichts anderes als eben das im Sinn gehabt hatte, als er seinen Dachgarten anlegte. Es war ihm niemals um den Wald aus Palmen und Farnen gegangen, sondern nur um das geheime Kräuterbeet in seiner Mitte – jenes Beet, in dem nun sein eigener Leichnam begraben lag.
Dort hatte der Alte, auf nur wenigen Quadratmetern, den Versuch unternommen, das mysteriöse Gilgamesch-Kraut zu züchten. Bis zuletzt ohne Erfolg, wie es schien. Zwar wuchsen dort kleine Kräuterpflänzchen, doch keines entsprach auch nur annähernd den verschlüsselten Beschreibungen im Buch.
So blieb das Gilgamesch-Kraut weiterhin unentdeckt. Aufgeregt beschloß Christopher, sich auch dieses Zweiges von Nestors Forschungen anzunehmen, allerdings erst, wenn er sich mit den übrigen Experimenten im Laboratorium
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