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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vertraut gemacht hatte. Nestor hatte Jahrzehnte gebraucht, um das nötige Wissen für seine Arbeiten zu erlangen; wie sollte da Christopher all das in zwei kümmerlichen Wochen nachholen?
    Nein, entschied er widerstrebend, das Gilgamesch-Kraut würde warten müssen.
    Am Abend des fünfzehnten Tages nach Nestors Tod machte Christopher drei Entdeckungen – und zu seiner Überraschung keine davon im Laboratorium oder im Dachgarten.
    Hinter das erste Geheimnis kam er, als er vom Speicher hinabstieg, um mit den anderen zu Abend zu essen. Er betrat das Eßzimmer im Erdgeschoß des Ostflügels, wo die Familie ihre Mahlzeiten einnahm. Christopher war gerannt, er war außer Atem, denn zum ersten Mal hatte er nicht auf die Uhrzeit geachtet und kam zu spät. Die anderen hatten sich bereits zurückgezogen, die Tafel war leer geräumt, und die hohe Standuhr zwischen den Fenstern stand auf einer Minute vor sieben. Normalerweise wurde das Essen um halb sechs aufgetragen. Danach blieb die Familie noch etwa eine Stunde beisammen. Meist bat Charlotte ihre Kinder anschließend in ihr Damenzimmer, dorthin, wo sie damals auch Friedrich empfangen hatte. Christopher war klar, daß er dort als nächstes hingehen mußte, um sich für sein Fehlen bei Tisch zu entschuldigen.
    Gerade wollte er die Tür des Eßzimmers hinter sich schließen, als der Zeiger der Standuhr auf die Sieben sprang. Die einzige volle Stunde, die Christopher je in diesem Raum erlebt hatte, war jene um sechs; um so erstaunter war er, daß zur siebten Stunde ein dumpfer Gong ertönte, der sich deutlich von dem um sechs unterschied. Die Tür der Standuhr öffnete sich mit einem langgezogenen Knarren und offenbarte die dunkle Höhlung im Inneren der Uhr. Christopher erinnerte sich, daß Sylvette ihm beim ersten Essen in diesem Zimmer etwas über die Uhr hatte erzählen wollen. Deutlich sah er vor sich, wie das Mädchen auf die Uhr zeigte, den Mund öffnete – und von Charlotte barsch zurechtgewiesen wurde. Seitdem war die Sprache kein zweites Mal auf die riesige Standuhr gekommen, und Christopher hatte den Vorfall vergessen. Doch wie es aussah, würde sich das Rätsel jetzt ganz von selbst lösen.
    Ein Schemen schob sich aus dem schwarzen Sarg der Uhr ins Licht, das vom Flur über Christophers Schultern fiel. Es war eine Gestalt, ein lebensgroßes Gerippe. Weiß und knöchern machte es außerhalb des Uhrgehäuses halt. Christopher erkannte, daß es mit beiden Händen eine Sense hielt, aufrecht neben dem Körper. Es war der Tod, natürlich, und Christopher betrat zögernd das Eßzimmer, um ihn genauer zu betrachten. Er hatte das Gerippe fast erreicht und bestaunte gerade, wie täuschend echt es doch aussah, als sich hinter dem Skelett eine zweite Gestalt aus dem Dunkel des Uhrkastens löste, ein Mann, der ungleich künstlicher als der bleiche Sensenmann wirkte. Die Grobheit seiner Züge schien beabsichtigt, als hätte der Künstler sich bei seiner Arbeit nicht auf ein bestimmtes Gesicht festlegen wollen.
    Der hölzerne Mann kam hinter dem Gerippe zum Stehen, hob ruckartig den rechten Arm und legte die Hand auf den Schädel des Skelettes. Zeige- und Mittelfinger klappten mechanisch nach vorne, krallten sich von hinten in die Augenhöhlen des Totenschädels und zogen ihn zurück. Der Kopf löste sich dem Anschein nach vom Hals – tatsächlich sah Christopher dunkle Fäden, die ihn hielten –, das Gerippe sackte in sich zusammen. Ein schnarrendes Geräusch erklang aus der Tiefe des Gehäuses, ein Lachen, das wohl mit Hilfe einer Rassel erzeugt wurde.
    Schließlich glitt die menschliche Gestalt mit einem Surren zurück, den Arm mit dem Totenschädel siegreich vorgestreckt. Dann verschwanden auch die Knochenreste des Gerippes in der Uhr. Knirschend klappte die Öffnung zu. Der große Zeiger sprang weiter. Die groteske Vorstellung hatte nur eine Minute gedauert.
    Kopfschüttelnd, aber zugleich fasziniert von dem kunstfertigen Spielzeug, verließ Christopher das Eßzimmer und schloß hinter sich die Tür. Hatte Nestor den Mechanismus in Auftrag gegeben, um seinen Triumph über den Tod vorwegzunehmen? Dazu paßte auch die Tatsache, daß das wunderliche Schauspiel nur um sieben zu sehen war, denn die Sieben, das wußte er mittlerweile, war eine Zahl, der in der Alchimie große Bedeutung zukam.
    Verwundert machte er sich auf den Weg zu Charlottes Damenzimmer, als ihm von jenseits der nächsten Gangkehre verhaltenes Gekicher entgegentönte. Und so nahm die zweite Entdeckung an

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