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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Leiter, vielfacher Autor und Spielleiter des Théàtre du Grand-Guignol.
    Maurey hatte Gillian buchstäblich von der Straße weg engagieren wollen, und Gillian hatte mehr aus Spaß denn aus wahrem Glauben an seine schauspielerischen Fähigkeiten zugesagt. So war der Hermaphrodit, der ohne eine Münze in Paris aus dem Zug gestiegen war, innerhalb weniger Wochen zu einer doppelten Anstellung gekommen: Tagsüber half er Piobb bei der Fertigung seiner Glasaugen, abends war er Nebendarsteller im Grand-Guignol. Da nahezu all seine Rollen ohne Text auskamen, hatte er keine Mühe, beide Aufgaben zur Zufriedenheit seiner Arbeitgeber auszuführen.
    Manchmal, wenn er abends im Bett lag, amüsierte er sich über das, was aus ihm geworden war. Er nahm beides mit Humor, stellte fest, daß es ihm in Paris mittlerweile ebenso gut gefiel wie in Wien, besser sogar, und war durchaus bereit, noch einige Monate, vielleicht ein Jahr, auf diese Weise zuzubringen. Er lebte in den Tag hinein, freundete sich mit dem kauzigen Piobb an, hielt sich aber von den Darstellern im Theater fern, da nicht wenige ihn, den Ungelernten, mißtrauisch beäugten. Ihnen allen war seine sonderbare Ausstrahlung ein Rätsel, und doch kam keiner darauf, sie in seiner gutgetarnten Zweigeschlechtlichkeit zu vermuten.
    An diesem Abend – Gillian sollte zum einundsechzigsten Mal auf der Bühne des Grand-Guignol stehen – war der Lärm im Zuschauerraum besonders laut. Auf der Bühne vollführte ein wahnsinniger Wissenschaftler Experimente an lebenden Jungfrauen, was ausreichend Gelegenheit für die Zurschaustellung von Blut, nacktem Fleisch und schlechtem Geschmack gab. Das Publikum applaudierte und schrie angesichts des makaberen Spektakels. Manche, die das Augenzwinkern des Autors verstanden, amüsierten sich prächtig, andere, die nur das Entsetzen der leichtbekleideten Darstellerinnen vor Augen hatten, jauchzten vor Empörung und Mitgefühl. Gillian hatte erkannt, daß eben dies das Geheimrezept des Grand-Guignol war: Bringe die Zuschauer gegen die Schurken, aber auch gegeneinander auf, und die größte Mundpropaganda ist dir sicher! So vervielfachte sich der Erfolg des Theaters mit jedem neuen Stück, und es verging kaum ein Tag, an dem es nicht auf die eine oder andere Art in der Presse erwähnt wurde.
    Gillian wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Maurey von hinten an ihn herantrat. Noch drei Minuten bis zu seinem Auftritt. Es war ungewöhnlich, daß der Spielleiter ihn in solch einem Augenblick in seiner Konzentration störte.
    »Jemand hat nach dir gefragt«, sagte Maurey und deutete mit einem Kopfnicken hinaus in den Zuschauerraum. »Alte Bekannte, haben sie gesagt.«
    »Sie?« fragte Gillian mit plötzlichem Stechen im Bauch. »Ziemlich schräge Vögel. Zwillinge, glaube ich. Sei so gut und frag sie, ob sie nicht bei mir vorsprechen wollen – es läuft einem kalt den Rücken runter, wenn man sie nur anschaut.«
    Und damit gab Maurey dem verdutzten Gillian einen anzüglichen Klaps auf den Hintern – das Zeichen zum Auftritt. Verwirrt und von zahllosen Befürchtungen bedrängt, stolperte er hinaus ins Licht, in einer Hand einen abgetrennten Arm aus Wachs, in der anderen ein hölzernes Schlachterbeil.
    Während der nächsten Minuten gab er sich alle Mühe, zugleich das Spiel des verrückten Wissenschaftlers wie auch das Publikum im Blick zu halten. Während er – einmal mehr als stummer Diener – den Anweisungen des Wahnsinnigen folgte, Leichenteile einsammelte und sie zu neuen Geschöpfen zusammenlegte, schaute er aus den Augenwinkeln immer wieder hinab in den Zuschauerraum.
    Die Wände des langgestreckten Saales waren mit finsterem Stoff bespannt, seine hinteren Regionen im Dunkeln kaum auszumachen. Inmitten der strengen Deckentäfelung hingen zwei riesige Engel aus Holz, golden angemalt und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen; größer hätte der Gegensatz zum Geschehen auf der Bühne kaum sein können. Doch Maurey liebte »das Süßsaure dieses Anblicks«, wie er sagte. Tatsächlich hatte es schon kirchliche Proteste gegen diesen Deckenschmuck gegeben – und eine aufsehenerregende Diskussion in der Pariser Tagespresse. Der Theaterleiter hatte, was Publizität anging, ein bemerkenswertes Gespür.
    Gillian entdeckte die Zwillinge in einer der vorderen Reihen. Stein – oder Bein – nickte ihm mit einem freundlichen Lächeln zu. Und da endlich drang die Erkenntnis zu Gillian durch, daß sein Versteckspiel beendet war. Es gab kein

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