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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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von seinem schwarzen Umhang. Aura stolperte auf den Karren zu, überlegte nur einen Sekundenbruchteil, dann machte sie sich am Geschirr des Pferdes zu schaffen. Das Fell des Tieres war feucht, dichte Dunstwolken stoben aus seinen Nüstern. Die Hufe zuckten unruhig im hohen Gras.
    Ein letzter Blick zurück. Immer noch keine Veränderung, nur schwarzer Stoff, unter dem sich reglose Glieder abhoben. War es möglich, daß sie ihn erschlagen hatte?
    Schwerfällig schwang Aura sich auf das Pferd, ohne Sattel und mit Zügeln, die viel zu lang waren. Es war ein müder, alter Gaul, doch als sie ihm jetzt in die Flanken trat, machte er einen ruckartigen Satz nach vorne. Sie wäre fast hinuntergefallen, fing sich aber im letzten Moment und trieb das Pferd über die Wiese den Hang hinab. Wenig später erreichte sie den Waldrand und einen überwucherten Pfad, der Gott weiß wohin führen mochte. Hauptsache talwärts, dachte sie panisch, Hauptsache weg von hier. Sie schaute nicht zurück, preschte gebeugt durch tiefhängende Äste, dem Tal, der Stadt, ihrer Rettung entgegen.

KAPITEL 7
    Manchmal, wenn er Musik hörte, glaubte Gillian Noten zu sehen, die wie ein Schwarm Stechfliegen um seinen Schädel schwebten. Sie tanzten auf und ab, ganz nach dem Text der Musik, mal schwermütig, mal vergnügt, und jedesmal, wenn er sie sah, dachte er dasselbe: Nun ist es soweit – du hast endgültig den Verstand verloren!
    Die Noten, die er jetzt sah, waren verzerrt und schief, ihr Tanz ein zitterndes Durcheinander. Man mochte dem Théàtre du Grand-Guignol vieles zugute halten, seine schrägen Stücke und Inszenierungen verteidigen und die laienhaften Darsteller in Schutz nehmen. Doch an der Musik, die zur Untermalung des Treibens auf der Bühne gespielt wurde, gab es nicht den geringsten Zweifel – sie war so schaurig wie die Themen der Aufführungen, und abgrundtief schlecht noch dazu.
    Gillian stand hinter der Kulisse und wartete auf seinen Einsatz. Er war Statist, einer der wenigen, denn hier im Grand-Guignol waren sich auch die Hauptdarsteller nicht zu schade, in entsprechender Maskerade einen Nebenpart zu übernehmen. Obwohl das Grand-Guignol erst vor zweieinhalb Jahren eröffnet worden war, zweifelte er nicht, daß sein Gründer, Max Maurey, sämtliche Requisiten von Schaubühnen und Theatern in ganz Paris gebraucht zusammengekauft hatte. Denn so sparsam wie im Anspruch an die Kunst war Maurey auch im Umgang mit seiner Geldbörse.
    Seit knapp vier Monaten lebte Gillian nun schon in Paris, und seit neun Wochen gehörte er zum Ensemble des Grand-Guignol, eines ebenso verrufenen wie erfolgreichen Boulevardtheaters am Montmartre. Hätte man ihm damals, während seiner überstürzten Flucht aus Wien, gesagt, daß er in Paris beim Theater landen würde, nun, er hätte die Bemerkung wohl nicht einmal eines Lachens für wert befunden. Dabei war es im nachhinein fast verwunderlich, daß er nicht bereits früher, in Wien oder einer der anderen Städte, in denen er gelebt hatte, ähnliche Angebote erhalten hatte. Gillian kannte natürlich seine Ausstrahlung, er wußte, wie verwirrend und zugleich anziehend er auf die meisten Menschen wirkte, und auf der Bühne kam ihm das zugute.
    Er war kein allzu guter Sprecher, sein Französisch war holprig, und so ließ Maurey ihn meist nur ein-, zweimal pro Vorführung hinaus auf die Bühne. Es war eigenartig, welche Wandlung in diesen Momenten mit dem Publikum vorging. Gemurmel und Lachen, das sonst den Zuschauerraum erfüllte, verstummten schlagartig. Aller Augen richteten sich wie gebannt auf den Hermaphroditen, ganz gleich, ob er reglos im Hintergrund stand oder einen aktiven Part am Bühnenrand übernahm. Maurey, der so manches Stück persönlich in Szene setzte, hatte die wundersame Reaktion natürlich gleich bemerkt und war schlichtweg hingerissen von Gillians Macht über die Menschen – sich selber eingeschlossen.
    Gillian wohnte zur Untermiete bei einem alten Puppenaugenmacher, unweit der Rue Chaptal, einer engen Sackgasse, an deren Ende das Grand-Guignol lag. Der Name des Alten war Raymond Piobb, und er vermietete Gillian nicht nur eine staubige Kammer im Giebel seines Häuschens, sondern beschäftigte ihn zugleich auch als Gehilfen. Gillians Aufgabe war es, den Vormittag über kleine, hohle Kugeln aus weißer Emaille zu polieren. Nachmittags reinigte er Piobbs zahlreiche Pinsel und Farbkästen und klebte Polster in kleine Holzdosen, in denen die künstlichen Augen geliefert wurden.
    Piobb nannte

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