Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
sich zwar Puppenaugenmacher, und als solcher hatte er das Geschäft von seinem Vater übernommen, doch mittlerweile verdiente er einen Großteil seines Geldes mit der Herstellung von Glasaugen für Menschen. Gleich als erstes hatte er Gillian einen langen Vortrag über Sinn und Ablauf seiner Geschäfte gehalten.
»Es gibt bei mir eine gute und eine schlechte Saison, wie in den meisten anderen Geschäften auch«, hatte der Alte erklärt und dabei geschickt mit drei Augäpfeln jongliert, einem braunen, einem grauen und einem feuerroten. »Von den Weihnachtstagen bis Mitte März läuft’s eher flau, aber danach, so bis Ende Oktober, sind Augen ein echter Renner. Weiß der Teufel, wieso. Die Glasaugen für Damen sind ein wenig teurer als die für Herren – die sind nämlich feiner gearbeitet. Ich leg gern ein wenig mehr Glanz und Feuer hinein.« Er hatte gekichert, sich verschluckt und dabei eines der drei Glasaugen fallen gelassen. Gillian hatte es geschickt aufgefangen, bevor es am Boden zerschellen konnte. »Fein, mein Junge, du gefällst mir. Vielen Dank.« Der Alte hatte ungehemmt weiter jongliert. »Also, wo war ich? Ah ja, die Damen … Kommt also eine Dame oder ein Herr zu mir, mit ’nem häßlichen Loch im Gesicht, dann müssen sie mir Modell sitzen wie bei einem Porträtmaler. Ich studiere die Farbtöne des gesunden Auges und fertige das neue speziell für diese Person an. Echte Kunst ist das, ich sag’s dir. Ich hab ’ne Kundin, eine Madame de Soundso, die ist seit fünf Jahren verheiratet, und ihr Alter weiß bis heute nicht, daß sie ein künstliches Auge hat! So was gibt’s nur beim alten Piobb, kannst du mir glauben!« Noch ein Kichern, aber diesmal waren die Glasaugen in der Luft geblieben. »Viele Kunden nehmen ihre Augen nachts heraus und legen sie sich unters Kissen oder in ein Wasserglas auf dem Nachttisch. Zumindest die Männer. Die meisten Damen lassen die Dinger immer drin, Tag und Nacht. Wußtest du eigentlich, daß manche Menschen ein Glasauge nur halb so lange tragen können wie andere? Das kommt von den Tränen. Manche haben weniger davon, andere mehr, und das Zeug zerfrißt die Oberfläche ihrer Augen wie Säure. Das sind mir die liebsten Kunden, denn die stehen bald schon wieder in meinem Laden – so nach zwei, drei Jahren, mal eins eher, mal eins später. Und ich will dir noch ein Geheimnis verraten, mein Junge.« So geheim konnte es freilich nicht sein, wenn er Gillian gleich am ersten Tag davon erzählte; trotzdem hatte der Hermaphrodit aufmerksam zugehört. »Die meisten Augen stelle ich gar nicht für die Reichen her, sondern für Dienstboten. Wenn die nämlich eines ihrer Augen losgeworden sind, will sie keiner mehr haben. Ja, ehrlich, die landen auf der Straße, ehe sie sich’s versehen. Aber es gibt hier in Paris einen wohltätigen Verein, der die Armen mit künstlichen Augen versorgt – mit meinen künstlichen Augen, heißt das! Die bekommen sie von mir zum halben Preis, weil’s bekanntlich die Menge macht. Alles in allem sind das so zweihundert bis dreihundert Augen im Jahr, für die armen Leute, meine ich. Und noch mal hundert oder hundertfuffzig für die Reichen. Dazu kommen die Bestellungen aus dem Ausland. Es gibt nicht viele Augenmacher, zum Glück. Zwei in London, einen in Mailand, einen in Rom, mehr nicht. Das Geschäft läuft also ganz gut, wirklich, ich kann nicht klagen.«
Piobb war es auch gewesen, der Gillian vom GrandGuignol erzählt hatte, dem Theater des Blutes, einer der größten Boulevardattraktionen der Stadt. Von überall her strömten die Menschen in das Haus am Ende der Rue Chaptal, ein vierstöckiges Gebäude mit weißer Fassade, dessen Eingang rechts und links von schlichten Säulen eingefaßt war. Daneben standen hölzerne Aufsteller mit Plakaten der jeweiligen Vorstellung, Stücke mit Titeln wie L’ Experience du Docteur Lorde oder Le Marquis de Sade. Es waren schlichte Geschichten, die hier erzählt wurden, mit Typen statt Charakteren und einem Übermaß an Massenmorden, Folterungen, Säurebädern und – die beliebteste Scheußlichkeit des Repertoires – chirurgischen Fehlschlägen.
Gillian hatte vor dem Theater gestanden, an einem freien Sonntag, als plötzlich eine Gestalt auf ihn zugesprungen war und ihn von oben bis unten gemustert hatte. Bald schon hatte sich das altbekannte Verzücken beim Anblick von Gillians Gesicht auf die Züge des Mannes gestohlen, der sich sogleich als Max Maurey höchstpersönlich vorstellte, der Gründer,
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