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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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von dem Tuch am Kamin zu einer Tür in der Rückwand.
    Aura nahm all das wahr – und vergaß es doch gleich wieder. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegen den Drang zur Flucht zu wehren, der immer stärker in ihr aufstieg. Noch hatte sie die Hütte nicht betreten, doch jetzt, ganz langsam, setzte sie einen Fuß durch den Türspalt. Mit weichen Knien trat sie in den Raum. Es war kalt hier drinnen, kein Wunder, da der Kamin nicht brannte, und dennoch hing ein schwerer, beinahe warmer Geruch in der Luft. Jenseits der anderen Tür erklangen jetzt wieder Laute, das Reißen von Stoff, das panische Strampeln von Füßen auf dem Holzboden.
    Das kann nicht dein Ernst sein, nicht wahr? Das wirst du nicht wagen!
    Sie schaute sich nach etwas um, das sie als Waffe benutzen konnte, und entdeckte einen langen Holzstab, am oberen Ende geformt wie ein Ypsilon. Es war eine Krücke, und sie lag gleich neben dem Bett am Boden. Aura hob sie auf, wog sie in der Hand, ohne das Gewicht wirklich zu fühlen. Ihre Augen waren nur auf die hintere Tür gerichtet, ihre Ohren registrierten jedes Geräusch.
    Plötzlich fluchte jemand. Ein lautstarkes Poltern, ein weiblicher Schrei. Dann krachte etwas von der anderen Seite gegen die Tür, und sie wurde aufgerissen.
    Ein Mädchen stolperte ins Zimmer. Aura kannte sie, es war eine der beiden verirrten Ausreißerinnen, Maria, ein Jahr älter als sie selbst. Ihr langes rotblondes Haar war von Blut verklebt, das aus einer Platzwunde oberhalb der Stirn über ihr Gesicht floß. Ihre Augen waren weit aufgerissen, Wahnsinn flimmerte darin wie die Glut zweier Irrlichter. Das weiße Nachthemd des Mädchens war schmutzig, zerrissen, von Scharlachrot durchtränkt.
    Sie taumelte quer durchs Zimmer, ohne Aura überhaupt wahrzunehmen, geradewegs auf die Hüttentür zu. An der Schwelle stolperte sie, schlug der Länge nach auf den Bauch, wälzte sich herum, starrte Aura in die Augen. Streckte hilfesuchend eine Hand aus.
    Aura sah, daß das Blut auf Marias Gesicht nicht willkürlich geflossen war. Jemand hatte ein seltsames Zeichen auf ihre Züge gemalt, eine Hieroglyphe. Ein Symbol.
    Wie gelähmt machte sie zwei steife Schritte auf das am Boden liegende Mädchen zu. Immer noch war Marias Hand ausgestreckt, sie öffnete den Mund, doch kein Ton drang hervor.
    Da erwachte Aura aus ihrer Erstarrung – und begriff. Maria streckte nicht die Hand nach ihr aus – sie zeigte auf etwas! Hinter Auras Rücken!
    Aura wirbelte herum, duckte sich aus Reflex noch in der Drehung und entging nur um Haaresbreite zwei zuschnappenden Händen, die sie am Haar packen wollten. Gleichzeitig schlug sie mit der Krücke zu, knapp über dem Boden, kein gezielter Hieb, nur blanker Instinkt.
    Das gegabelte Ende der Krücke traf ihren Gegner mit derart verzweifelter Wucht am Knie, daß er mit einem Aufschrei zu Boden ging. In einem Gewirr aus schwarzem Cape und dürren, gebrechlichen Gliedern stürzte der Vermummte auf die Holzbohlen, versuchte vergeblich, sich zu fangen. Aura holte weit mit der Krücke aus und ließ sie in das zappelnde Schwarz hinabsausen, dorthin, wo sie unter der Kapuze den Kopf ihres Feindes vermutete. Einen Augenblick lang sah sie ein schmales, uraltes Gesicht zwischen den schwarzen Stoffbahnen – dann schlug der Stock mitten hinein. Der Schädel prallte krachend auf die Bohlen.
    Aura fuhr herum und wollte Maria beim Aufstehen helfen, doch das Mädchen war fort. Ohne zurückzublicken, die Krücke fest umklammert, stürmte Aura nach draußen. Der eisige Gebirgswind und die Ruhe der Nacht brachten ein wenig Klarheit in ihre Gedanken, obgleich sie am ganzen Leib zitterte und sich kaum auf den Füßen halten konnte.
    Maria lag zwischen Tür und Pferdekarren, inmitten des Lichtscheins, der aus der Hütte auf die Wiese fiel. Sie lag auf dem Bauch, und da erst entdeckte Aura die Wunde, die im Rücken des Mädchens klaffte. Der schreckliche Greis mußte noch im Davonlaufen nach ihr geschlagen haben, mit einem Beil oder einem Fleischermesser. Als Aura sie erreichte, atmete Maria nicht mehr. Einen Augenblick lang zuckten noch ihre Fingerspitzen, dann erschlafften sie.
    Aura erlebte Marias Tod wie in einem Traum. Da waren Schmerz, Entsetzen, aber auch eine schwer zu bestimmende Sachlichkeit. Ihr war, als müsse sie jeden Augenblick erwachen, auf dem Höhepunkt dieses Nachtmahrs, um sich in schweißnassen Laken wiederzufinden.
    Sie taumelte herum, blickte zur Hütte. Der vermummte Greis lag immer noch am Boden, bedeckt

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