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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wirbelte herum und ließ seine Handkante vorschnellen. Er hatte auf den vorspringenden Adamsapfel des Zwillings gezielt, der Mann aber duckte sich, und so traf der Hieb seine Stirn. Kein tödlicher Schlag, aber einer, der ihn benommen machte. Mit einem Keuchen taumelte er zurück, als im gleichen Moment hinter Gillian ein Ruf ertönte: »Stein!«
    Er ruckte herum und sah, daß der andere Zwilling – offenbar Bein – bereits zur Hälfte über den Rand des Kohlenschachts geklettert war. Mit einem einzigen Schritt sprang Gillian auf ihn zu, holte aus und trat ihm mit aller Kraft unters Kinn. Der Zwilling riß schreiend den Mund auf; Gillian erkannte die Zahnlücken, die er bei ihrem letzten Zusammentreffen in Wien davongetragen hatte. Bein wurde von der Wucht der Tritts nach hinten geschleudert, quer über die Öffnung, und krachte mit dem Hinterkopf auf die gegenüberliegende Schachtseite. Abermals verschwand er unter Getöse im Loch.
    Im selben Augenblick aber rappelte Stein sich wieder auf, hechtete in einem grotesken Sprung auf Gillian zu und brachte sie beide zu Fall. Stöhnend purzelten sie übereinander. Gillian kam als erster auf die Beine. Er hatte nichts verlernt. Doch plötzlich schoß die lange Rechte des Zwillings vor und bekam ihn an der Wade zu fassen. Gillians Selbstzufriedenheit schwand schlagartig, er wollte sich losreißen, doch Steins Finger krallten sich mit der Gewalt eines Schraubstocks in Stoff und Muskeln. Zugleich ertönte aus dem Schacht neuerlicher Lärm, als Bein sich von unten dem Ausstieg näherte.
    Ein Fenster wurde aufgerissen, jemand fluchte auf französisch, dann ergoß sich ein stinkender Schwall in den Hof, traf Stein und Gillian gleichermaßen. Einen Moment lang war der Zwilling abgelenkt – und Gillian riß sich los. In einer Wolke aus erbärmlichem Gestank rannte er auf den Torbogen zu, der hinaus auf die Rue Chaptal führte.
    Die Vorstellung mußte vor einigen Minuten zu Ende gegangen sein, denn ein Strom von Besuchern zog sich vom Theater bis zur nächsten Kreuzung, wo einige der Höhergestellten von ihren Kutschen erwartet wurden. Doch Gillians Hoffnung, in der Menge untertauchen zu können, wurde enttäuscht, als die ersten Männer und Frauen den Geruch wahrnahmen, der von ihm ausging. Einige erkannten ihn vielleicht als den stummen Diener aus dem Stück, doch das war schwerlich der Grund, weshalb sie vor ihm zurückschreckten. Eine Gasse bildete sich um ihn, die Menschen ließen ihn unter empörtem und angewidertem Geschrei passieren.
    Gillian kümmerte sich nicht um den Aufruhr. Er stürmte an den Theaterbesuchern vorbei bis zur Kreuzung. Dort bog er nach links ab, einer breiteren und heller beleuchteten Straße entgegen. Ein sanfter Nieselregen hatte eingesetzt, nicht ungewöhnlich für Anfang März, und doch empfindlich kühl.
    Gillian sprang nach rechts in einen Torbogen, hinter dem ein Tunnel in einen weiteren Hinterhof führte. An seiner Stirnseite lag der Laden des alten Piobb. Durch ein vergittertes Schaufenster glotzten Dutzende von Augen in die Nacht.
    Es gefiel ihm nicht, die Zwillinge hierherzulocken, und doch war es der einzige Weg, sie ein für allemal loszuwerden. Er wußte, daß Piobb in seiner Werkbank eine Flinte aufbewahrte, ein altes, unhandliches Ding, das er gebraucht von einem Straßenhändler gekauft hatte, vor Jahren, nachdem ein paar Betrunkene in seinen Laden eingedrungen waren und versucht hatten, mit den Glasaugen Boule zu spielen.
    Hastig suchte er in seinen Hosentaschen nach dem Ladenschlüssel, doch als er ihn fand und ins Schloß stecken wollte, bemerkte er, daß die Tür nur angelehnt war. Zögernd schob er sie nach innen auf und starrte angestrengt ins Dunkel.
    »Monsieur Piobb?« rief er. »Sind Sie hier?«
    Er machte einen Schritt ins Innere des Ladens. Glas knirschte unter seiner Schuhsohle, und als er den Fuß erschrocken zurückzog, entdeckte er, daß er eines von Piobbs Augen zertreten hatte.
    »Monsieur Piobb?«
    Je länger er in die Finsternis blickte, desto deutlicher sah er die zahllosen Augäpfel, die vom Boden emporstarrten. Weit verstreut, viele zerbrochen, und immer noch mit einem Anschein von Leben in den glitzernden Pupillen.
    Kalte Wut stieg in Gillian auf. Er kam zu spät. Sie waren hiergewesen, bevor sie ihn im Theater gesucht hatten.
    Und, da, jetzt hörte er auch wieder ihre Schritte. Als er sich umschaute, standen die hageren Silhouetten der Zwillinge unter dem Torbogen zum Hof, keine zwanzig Meter von ihm entfernt.

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