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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Entkommen vor Lysanders Zorn, und gerade er hätte das wissen müssen.
    Er war drauf und dran, seinen Auftritt abzubrechen und abermals vor Lysanders Lakaien zu fliehen, doch dann entschied er sich dagegen. Es wäre falsch gewesen, unnötiges Aufsehen zu erregen. Und noch saßen Stein und Bein friedlich in ihren Sesseln, beobachteten sein Spiel und schienen, so verrückt es war, größtes Vergnügen dabei zu empfinden.
    Endlich, nach fünf oder sechs Minuten, durfte er sich zurückziehen. Er war kaum hinter die Kulissen getreten, als er sich schon das falsche Haarteil vom Kopf zog, an dem verstörten Maurey vorüberstürmte und den Hintereingang aufriß.
    Draußen, im Licht einer einsamen Gaslaterne, standen Stein und Bein, die Hände in den Taschen, auf den Lippen falsche Wiedersehensfreude. Sie waren noch schneller geworden als früher, alle Achtung! Ihre Schatten stachen auf dem feuchten Pflaster des Hinterhofs wie Messerklingen in Gillians Richtung, und einen Augenblick lang war er zu perplex, sich auch nur zu rühren. Zwei Sekunden später aber schlug er die Hintertür von innen zu, suchte vergeblich nach Riegeln und rannte fluchend zurück ins Gewirr der Garderoben und Requisitenlager. Er hörte, wie hinter ihm die Tür aufgerissen wurde, und bog um eine Ecke, in einen Gang, der ihn unausweichlich zurück hinter die Bühne führen würde.
    Zwei »tote« Jungfrauen, blutüberströmt und kichernd, kamen ihm von ihrem Auftritt entgegen und blieben verwundert stehen, als er achtlos an ihnen vorüberstürmte. Wie verwundert mußten sie erst sein, wenn sie die leichenhaften Zwillinge erblickten!
    Gillian sprang durch eine Tür, die direkt in den Raum hinter den Kulissen führte, und schaute sich suchend nach Maurey um. Der Spielleiter war nirgends zu sehen. Nur zwei Bühnenarbeiter lehnten rauchend an der Rückseite der Laborkulisse und lauschten entspannt dem Blutbad, das draußen gerade seinen Höhepunkt fand.
    Gillian lief an ihnen vorbei, suchte Maurey auf der anderen Seite des Raumes, doch auch hier fand er ihn nicht. Wo steckte er nur? Der Theaterleiter hätte genügend Leute mobilisieren können, um die Zwillinge eine Weile lang aufzuhalten, doch wie es aussah, blieb Gillian auf sich allein gestellt.
    Über eine schmale Wendeltreppe erreichte er den niedrigen Raum unter der Bühne. Ein Wald aus Stützen und Trägern lag düster dort im Zwielicht. Gillian mußte sich bücken, um sich nicht den Kopf anzustoßen. Stein und Bein, die noch größer waren als er, würden hier unten erhebliche Mühe haben, ihm zu folgen. Von oben drang das Getrampel des verrückten Wissenschaftlers durch den Bühnenboden, immer wieder gefolgt von Applaus und entsetzten Schreien aus dem Publikum.
    Am anderen Ende des Bühnenkellers lag eine Tür, die zu einem weiteren Lagerraum führte. Darin wurden jene Requisiten aufbewahrt, die nicht in jeder Vorstellung benötigt wurden: Kulissenteile, Duplikate von Folterwerkzeugen aus leichtem Holz, aber auch Bücherattrappen und historische Kostüme.
    Gillian hörte Schritte auf den Metallstufen der Wendeltreppe, und als er sich flüchtig umsah, erkannte er die langen, dürren Beine der Zwillinge. Sicher hatten die Bühnenarbeiter versucht, die beiden aufzuhalten – vergeblich, wie es schien. Oder sie hatten sie für neue Komparsen gehalten, wandelnde Leichen vielleicht.
    Er erreichte die Tür des Lagers, öffnete, sprang hindurch und warf sie hinter sich wieder zu. Von innen schob er eine chirurgische Liege davor, auf die er eilends zwei schwere Kisten hievte. Er hatte die letzte kaum abgesetzt, als auch schon ein Hämmern an der Tür ertönte.
    Atemlos schaute er sich um. Er war erst ein einziges Mal hier unten gewesen, vor Wochen, als Maurey ihn durch das ganze Theater geführt hatte. Seine Erinnerung hatte den Raum schrumpfen lassen, und nun war er überrascht, wie weitläufig das Lager war. Einst mußte dies ein alter Weinkeller gewesen sein, der Geruch nach Korken hing immer noch unter der düsteren Gewölbedecke. Zahlreiche Regalreihen versperrten den Blick auf das andere Ende. Ohnehin gaben die vereinzelten Glühbirnen an der Decke nur schummriges Licht.
    Der Keller hatte zwei Ebenen, Gillian befand sich auf der oberen. Die tiefere zweigte seitlich davon ab, sie befand sich genau unter den Sesselreihen des Publikums. Getöse drang durch die hölzerne Decke.
    Eine Treppe führte in diesen unteren Teil des Lagers. Auch hier: Gewölbebögen, nackte Glühbirnen, Regal neben Regal. Hinter

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