Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Sie setzten sich wieder in Bewegung, wurden gänzlich von der Schwärze verschluckt, als sie durch den Tunnel liefen. Nur das Geräusch ihrer Sohlen auf dem Pflaster kam näher und näher.
Die Flinte! Gillian stürzte vor, trat auf weitere Augen. Seine Füße zermalmten sie zu Glasstaub. Fast blind fand er in der Dunkelheit die Schublade. Sie war aufgerissen worden, wohl in dem Bemühen, die Zerstörung als Werk eines Räubers auszugeben. Die Flinte lag noch an ihrem Platz. Gillian ließ sie aufschnappen, seine Finger tasteten nach den beiden Patronen im Lauf. Gut, die Waffe war geladen.
Er fuhr im selben Augenblick zum fahlen Rechteck der Tür herum, als Stein und Bein vor dem Laden zum Stehen kamen. Sie konnten in der Finsternis unmöglich sehen, wo Gillian sich aufhielt.
»Der Herr will ihn lebend«, sagte Stein laut genug, um klarzustellen, daß die Worte an Gillian, nicht an seinen Bruder gerichtet waren.
»Hat vielleicht einen neuen Auftrag für den hübschen Mädchenjungen«, fügte Bein hinzu.
Stein warf seinem Bruder einen tadelnden Blick zu. Trotz allem, was geschehen war, schien er Gillian nicht weiter provozieren zu wollen. Ihm schien in der Tat einiges daran zu liegen, Gillian lebendig zu Lysander zu bringen.
Die Flinte im Anschlag wartete Gillian im Dunkeln. Die Zwillinge traten jetzt durch die Tür. Weitere Glasaugen platzten unter ihren Füßen. Wo, zum Teufel, war Piobb? Was hatten diese Schweine ihm angetan?
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da fiel sein Blick auf zwei Füße, die unter der Werkbank hervorragten. Lautlos ging Gillian in die Hocke, von Widerwillen und verzweifelter Wut erfüllt. Sogar im Dunkeln konnte Gillian erkennen, daß die Zwillinge Piobb gefoltert und dann erst getötet hatten.
Etwas geschah mit ihm. Seine Konzentration wurde von einer lodernden Woge aus Haß verdrängt. In einer einzigen gleitenden Bewegung sprang er auf, legte an und feuerte Bein aus wenigen Schritten Entfernung eine Schrotladung in den Bauch. Stumm, ohne einen Schrei, stürzte der Zwilling nach hinten, mitten in die Auslagen des Augenmachers. Die Glasaugen sprangen wie Murmeln um ihn herum.
Stein brüllte auf, stürzte auf seinen Bruder zu, sah, daß Bein sich nicht mehr rührte. Geduckt wie eine Raubkatze wirbelte er herum und starrte ins Dunkel, in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war.
»Das hätte er nicht tun dürfen!« preßte er mit tränenerstickter Stimme hervor. »Das hätte der Mädchenjunge niemals tun dürfen!«
Und im selben Moment sprang er schon vorwärts, hechtete mit seinen Spindelgliedern über einen Tisch in der Mitte des Ladens und kam keine zwei Meter vor Gillian zum Stehen.
»Du … Mädchen!« schrie ihn der Zwilling hilflos an, und fast hätte die Absurdität dieser Bemerkung Gillian aus der Fassung gebracht.
Stein kam noch näher, die Klauen ausgestreckt, das große Gebiß gefletscht. Gillian drückte ab. Die Ladung fetzte ein kreisrundes Loch in den Unterleib des Zwillings, riß ihn beinahe in zwei Hälften. Stein prallte zurück, krachte auf den Boden, begrub Dutzende von Glasaugen unter sich.
Gillian schleuderte die leere Flinte fort, angewidert von der Barbarei dieser Waffe. Nie zuvor hatte er ein so grobes, abscheuliches Werkzeug benutzt.
Er stieg mit einem großen Schritt über Steins Leichnam hinweg und trat an die Auslage. Bein wimmerte leise, preßte hilflos beide Hände auf die klaffende Wunde in seinem Bauch. Der Schmerz mußte entsetzlich sein, und sein Blick war ebenso leer wie jener der Glasaugen, die ihn umgaben.
Gillian tötete ihn schnell und freudlos. Das warme Fleisch unter seinen Fingern gab ihm neue Kraft. Er zerrte den Toten zurück, bis sein Körper aus der Auslage auf den Boden polterte. Dann ging er zur Werkbank, wo er Piobbs Leiche aufhob und wie einen gefallenen König auf dem Tisch aufbahrte, die Augen geschlossen, die Hände über der Brust gefaltet.
Die Gendarmerie würde bald hier sein, doch Gillian nahm sich die Zeit, ein heil gebliebenes Glasauge zu suchen und in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Ein Glücksbringer, hoffte er, auf jeden Fall ein Andenken. Er rannte die hölzernen Stiegen zum Dachboden hinauf, stopfte seine Sachen achtlos in eine Reisetasche. Dann verließ er das Haus und den Hinterhof, gerade als am Ende der Straße der Schein umherzuckender Handlampen auftauchte.
Tränen kühlten Gillians Wangen. Lysander würde zahlen für das, was er getan hatte, ganz gleich, um welchen Preis. Nach so
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