Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
kippte überrascht nach hinten, während das Mädchen ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange gab. »Du bist toll«. Sie strahlte, nahm ihm das Fläschchen ab und eilte damit zum Garderobentisch. Sie setzte sich auf den Hocker und betrachtete im Spiegel ihre hellblonden Locken. Dann blickte sie wieder erwartungsvoll auf das Gefäß.
Christopher ging neben ihr in die Hocke. »Komm, ich erklär’s dir.«
Nachdem er sicher war, daß Sylvette die Flüssigkeit richtig anwenden würde, stand er auf und ging zur Tür. »Wir sehen uns beim Unterricht«, sagte er und wollte das Zimmer schon verlassen, als Sylvette ihm nachrief: »Warte noch!«
Sie sprang vom Hocker, jetzt wieder ganz die verspielte Elfjährige.
»Ich will dir was zeigen.« Sie ergriff seine Hand und zog daran. »Ein Geheimnis.«
Er folgte ihr mit einem gutmütigen Lächeln zum großen Kleiderschrank, einem reichverzierten Ungetüm, in dessen Türen bunte Blumenmuster eingelassen waren. Sylvette zog die rechte Seite auf, schob ihre zahlreichen Spitzenkleider zur Seite und offenbarte an der Rückseite etwas, das mit einem Tuch verhängt war. Der Form und Größe nach handelte es sich um einen Bilderrahmen.
»Es ist das größte Geheimnis, das ich habe«, sagte Sylvette stolz und blickte ihn verschwörerisch an. »Niemand weiß davon, kein Mensch auf der ganzen Welt. Du mußt mir versprechen, daß du niemandem davon erzählst.«
Christopher war tief gerührt von ihrem kindlichen Vertrauen. Mit Ausnahme von Bruder Markus hatte ihm noch nie jemand so ehrliche Zuneigung entgegengebracht. »Ich verspreche es«, flüsterte er und drückte sie an sich. »Aber«, fügte er hinzu, als sie das Tuch zur Seite ziehen wollte, »bist du wirklich sicher, daß du es mir zeigen willst? Ich meine, es wäre dann kein Geheimnis mehr.«
Sylvette zögerte unmerklich, drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Willst du es denn nicht sehen?«
»O doch«, versicherte er, mit einemmal von unbestimmter Traurigkeit erfüllt, »natürlich will ich das. Aber meinst du nicht, man muß sich so eine Ehre erst verdienen?«
»Du bist doch jetzt mein Bruder. Und du hast mir ein Geschenk gemacht.«
»Daniel wird dir auch etwas schenken. Genau wie Mutter.«
Sie kräuselte trotzig die Stirn. »Aber die beiden hab ich nicht so lieb wie dich.«
Ich habe deinen Vater im Dachgarten verscharrt, dachte Christopher, und du sagst mir, daß du mich lieb hast? Plötzlich war er von sich selbst so angewidert, daß er nur noch fort wollte, fort aus diesem Zimmer und fort von diesem Kind, das ihm trotz allem so sehr vertraute.
Noch einmal umarmte er sie und sagte dann: »Es ist kein Geheimnis mehr, wenn du es mir zeigst – auch wenn ich keinem davon erzähle. Warte noch ein wenig damit. Irgendwann werde ich es verdient haben. Verstehst du, was ich meine?«
Seine Wortwahl war ungeschickt und verworren, und er fürchtete, daß sie ihm seine Weigerung übelnahm. Doch zu seinem Erstaunen huschte ein kluges Lächeln über Sylvettes zartes Puppengesicht.
»Wir schwören es uns gegenseitig, ja? Du beschützt mich, und ich beschütze dich. Wenn ich dir helfe, verrätst du mir dein Geheimnis, und wenn du mir hilfst, zeige ich dir meins.«
Er streichelte ihr über die langen Locken. »So machen wir’s. Das schwöre ich.«
»Ich auch.«
Sylvette schob sorgfältig die Kleider vor den verhüllten Rahmen und schloß die Schranktür. Christopher sah ihr zu, und wieder überkam ihn das schlechte Gewissen mit solcher Macht, daß er den Blick abwenden mußte, damit sie die Qual in seinen Augen nicht sah.
Er verließ das Zimmer tief in Gedanken, erfüllt vom Wissen um seine Schuld, aber auch mit der Überzeugung, daß es zu spät war, um noch irgend etwas zu ändern. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, gestattete keine Umkehr, keine Reue. Zu viel war in den vergangenen vier Monaten geschehen.
An einem Abend vor nahezu drei Wochen – war es wirklich schon so lange her? – hatte er Charlotte in ihren Räumen im Westflügel aufgesucht. Die anderen hatten sich um diese Uhrzeit bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen. Christopher hatte darauf geachtet, daß er das Gespräch mit seiner Stiefmutter an einem Tag suchte, an dem ihr Liebhaber nicht im Schloß weilte. Es verging keine Woche, in der der Freiherr nicht auf die Insel kam und für mindestens eine Nacht blieb. Christopher hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den beiden zu folgen und ihren Gesprächen beim Liebesspiel in der Familiengruft zu lauschen –
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