Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
haßerfüllten Blick zu. »Warum Daniel? Was hat er dir getan?«
Darüber hatte er selbst lange nachgedacht, ohne eine überzeugende Antwort zu finden. Es war nicht der Schlag, den Daniel ihm auf dem Flur verpaßt hatte, nicht einmal ihre offene Feindschaft. Aber da war etwas in Daniels Blicken, in der Art, wie er ihn zu beobachten schien, bei jedem Schritt, jedem Wort, das er sagte. Christopher spürte die Präsenz seines Stiefbruders sogar dann noch, wenn er gar nicht in der Nähe war. Ständig war ihm, als werde er von Daniel verfolgt, gejagt, belauert. Und was immer die wahren Ursachen sein mochten, er spürte, daß ihm von Daniel Gefahr drohte. Ihm selbst und seinem Werk. Nestors Werk.
Christopher wandte sich um und ging zur Tür. »Veranlasse einfach, was ich dir gesagt habe«, sagte er barsch, aber mit leichtem Zittern in der Stimme. »Daniel muß gehen. Wohin, ist mir gleichgültig. Nur fort aus meinen Augen.«
»Und dann?« fragte Charlotte, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. »Was wirst du als nächstes verlangen?«
»Wir werden sehen.«
Er ging und schloß die Tür hinter sich, sehr leise, fast behutsam, als wolle er sie in ihrem Leid nicht stören.
Seither waren drei Wochen vergangen. Doch auch heute, an Sylvettes Geburtstag, fühlte er sich noch nicht besser, ganz im Gegenteil. Immer noch war ihm, als lauere bei allem, was er tat, jemand in seinem Schatten, und nachdem Daniel ausgezogen war, gelangte er zu der Überzeugung, es sei Nestor. Oder besser: Nestors Geist.
Daniel hatte dem Schloß nicht gänzlich den Rücken gekehrt. Zwar hatte niemand Christopher gesagt, wohin er verschwunden war, doch es hatte nicht lange gedauert, bis er die Wahrheit herausgefunden hatte.
Daniel hatte sein Lager im alten Leuchtturm aufgeschlagen, auf der nördlichsten der fünf Felseninseln, die das Schloß umgaben. Nachts stand Christopher hinter den Scheiben des Dachgartens und konnte den trüben Schimmer sehen, der durch die Tür des Leuchtturms fiel. Die Seeadler mieden die Insel seit Daniel sich dort eingenistet hatte.
Christopher sollte es recht sein. Er war froh, daß sein Stiefbruder ihm nicht mehr über den Weg lief. Aus Nestors Erzählung wußte er, daß ein Geheimgang unter dem Meer zum Leuchtturm führte, ähnlich wie jener zur Friedhofsinsel, doch bislang hatte er noch nicht in Erfahrung bringen können, wo dieser Gang ins Schloß mündete. Sylvette wußte es nicht, die Diener zuckten ebenfalls mit den Schultern, und Charlotte tat zumindest so, als hätte sie keine Ahnung, wovon er sprach. Er ahnte, daß sie ihn anlog, aber er brachte es nicht über sich, sie weiter mit Fragen zu bedrängen. Ihre Traurigkeit machte ihm zu schaffen, und allmählich begann er zu wünschen, auch Charlotte würde fortgehen, und sei es nur, damit sein Gewissen endlich Ruhe fand.
Er war nicht dabeigewesen, als sie Daniel klarmachte, was zu tun sei, und so konnte er sich die Reaktion seines Stiefbruders nur ausmalen. Er stellte sich vor, wie er Christopher verfluchte, wie er schwor, sich an ihm zu rächen – und doch war Christopher klar, daß keine dieser Regungen wirklich in Daniels Natur lag. Sogar den Schlag hatte er damals bedauert.
Nein, je länger Christopher darüber nachdachte, desto sicherer war er, daß sein Stiefbruder sich schweigend in sein Schicksal gefügt hatte. Schweigend und mit einem leidenden Ausdruck von Schwermut.
Seit Wochen schon ging Christopher nicht mehr zum Unterricht. Es war nicht mehr nötig, diese Maskerade aufrechtzuerhalten. Sein Stand im Schloß war gefestigt, niemand würde wagen, ihn dafür zur Rede zu stellen. Im Dachgarten gab es Wichtigeres zu erlernen, Drängenderes zu begreifen. Sicher, er vermißte die Stunden mit Sylvette, aber viele davon holte er an den Nachmittagen nach. Dann spielten sie miteinander, Karten und andere einfache Dinge, unternahmen auch die eine oder andere Bootstour. Nur den Ausflug ins Dorf, um den sie ihn gebeten hatte, hatte er ihr ausgeschlagen. Er war noch nicht bereit, zum Festland zurückzukehren – und sei es nur für wenige Stunden. Allein bei dem Gedanken war ihm, als lege sich eine Hand aus Eis auf seine Schulter, als hielte Nestor selbst ihn zurück und flüstere ihm Warnungen ins Ohr.
Seit etwa einem Monat sprießten aus dem Kräuterbeet im Herzen des Dachgartens seltsame Pflanzen, genau an jener Stelle, unter der Nestor begraben lag. Erst hatte Christopher sie für schlichtes Unkraut gehalten – er hatte die Pflege der Gewächse zugunsten
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