Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
nicht, wie er sich eifrig selbst versicherte, ihres Treibens wegen, sondern um mehr über sie und ihre Schwächen zu erfahren.
An jenem Abend war seine Stiefmutter früh zu Bett gegangen, und so trat sie ihm im Nachtgewand und mit einigem Erstaunen entgegen, als er gegen halb elf an ihre Tür klopfte.
»Christopher! Was ist geschehen?« Leichter Schrecken stand in ihren Augen.
Der erste große Riß im Verputz deines Familienglücks, dachte Christopher bitter. Aber er fragte nur: »Darf ich einen Moment hereinkommen? Keine Bange, es ist nichts Schlimmes.«
»Natürlich, ja«, gab sie zerfahren zurück, eilte ihm voraus und warf sich einen dünnen Seidenmantel über. Christopher schloß hinter sich die Tür.
»Setz dich«, bat sie ihn und deutete auf eine Sitzgruppe unter einem der vielfarbigen Fenster. Sie befanden sich im Vorraum ihres Schlafzimmers. Durch die offene Flügeltür konnte Christopher die blütenweißen Bezüge ihres Himmelbettes sehen. So rein, dachte er, so anständig; wie verlogen doch die künstliche kleine Welt ist, mit der du dich umgibst.
Wirklich verblüffend aber war die Einrichtung des Zimmers. Die Wände waren mit Muscheln getäfelt, und Muscheln lagen auch auf jeder Kommode, jedem Regal, sogar auf kleinen Säulen und in einem Schaukasten zwischen den Fenstern. Die meisten waren klein, nichts Besonderes, doch es waren auch einige außergewöhnliche darunter, wie jene, die Friedrich ihr aus den Kolonien mitgebracht hatte – große, mächtige Gehäuse, vielfach in sich gedreht und schillernd in den sonderbarsten Farben. Christopher hatte gewußt, daß seine Stiefmutter Muscheln sammelte, aber er war nie zuvor in diesem Zimmer gewesen, und er hatte nicht geahnt, welches Ausmaß ihre Obsession angenommen hatte.
»Sie sind herrlich, nicht wahr?« sagte sie, als sie bemerkte, daß er sich umschaute.
»Das sind sie, allerdings.« Noch immer stand er mitten im Raum, während Charlotte bereits auf dem Sofa Platz genommen hatte; es war weinrot und an den Rändern golden abgesetzt.
»Ich mag es, dem Meeresrauschen zuzuhören«, sagte sie, und einen Augenblick lang wich ihr sorgenvoller Gesichtsausdruck einer verträumten Wehmut.
Christopher brauchte einen Moment, ehe ihm klar wurde, daß sie das Rauschen im Inneren der Muscheln meinte, nicht das vor den Fenstern. »Aber du hast das Meer doch direkt vor der Tür – ist dir die Natur nicht lieber als ihre Nachahmung?«
»Soll ich ehrlich sein?« Sie schaute zu ihm auf und begann, mit beiden Händen ihre Wangenknochen zu massieren. »Ich hasse die See. Es widerstrebt mir, mich einem Boot anzuvertrauen, nur eine dünne Wand aus Holz zwischen mir und dem Wasser. Das Meer macht mir Angst. Die Unendlichkeit und diese Tiefe … liebe Güte, mir wird schwindelig, wenn ich nur daran denke. Ich bin wahrscheinlich der einzige Bewohner dieses Schlosses, der dankbar ist für die Bleiglasfenster. So muß ich nicht ständig hinausblicken, in diese graue Einöde.« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie das Bild aus ihren Gedanken vertreiben. »Wellen, Wellen, bis weit über den Horizont hinaus. Die See ist uns Menschen fremd. Und doch besitze ich mit jeder Muschel ein Stück davon, und ich kann damit tun, was ich will. Ich kann sie zerschlagen, und dann ist auch das Meer darin fort. Schau mich nicht so an, Christopher, es ist wahr! Jede Muschel hält ein wenig vom Meer gefangen. Du kannst es hören. Wenn mir danach ist, kann ich den Stimmen des Ozeans lauschen, aber ich kann sie auch für immer zum Schweigen bringen. Die Muscheln helfen mir, mit dieser Insel fertig zu werden, mit der See, die sie umgibt. Die Muscheln …, sie geben mir Macht darüber, Macht über das Meer. Und über die Angst.« Sie lächelte, jetzt beinahe ein wenig beschämt.
»Manchmal fühle ich mich sehr hilflos.«
Er wußte, daß dies kein guter Augenblick war, trotzdem fragte er leise: »Gehst du deshalb mit Friedrich zur Friedhofsinsel?«
Ihre Züge, gerade noch verträumt und schwermütig, zerflossen wie ein Stück Seife. Alle Farbe wich aus ihren Wangen, ihr Blick wurde trübe und verletzlich. »Wie lange weißt du es schon?«
»Schon lange. Über drei Monate.«
Sie versuchte vergeblich, Strenge in ihre Stimme zu legen. Statt dessen aber klang sie nur schrill und verzweifelt. »Es geht dich nichts an, Christopher. Niemanden geht das etwas an.«
»Aber andere könnten sich dafür interessieren.«
Sie schwieg, nahezu eine Minute lang, und in dieser Zeit begriff sie, was er
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