Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
dicker, glatter Strähnen unter dem Mantel hervor, grau wie ein Winterabend. Als er sich das Haar über die Schultern und den Rücken schüttelte, reichte es bis zu den Hüften. Es verlieh ihm etwas Hexenhaftes.
»So«, sagte er zufrieden, »jetzt.«
Aura folgte ihm zögernd die Treppe hinunter, die Waffe im Anschlag, bereit, ihm jederzeit eine Kugel zwischen die Schulterblätter zu feuern. Er hatte ihre Lampe von der Brüstung an sich genommen und trug sie mit abgewinkeltem Arm vor sich her. Ihr Schein schob sich über die rauen Wände des Schachts.
Aura bewunderte widerwillig das baumeisterliche Geschick, mit dem der geheime Zugang geschaffen worden war. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nirgends gesehen. Wie simpel waren dagegen die Geheimtüren im Schloss Institoris.
»Ich muss Sie noch etwas fragen«, sagte sie, während die Oberfläche immer weiter hinter ihnen zurückblieb.
»Fragen Sie.«
»Sagen Ihnen die Namen Morgantus und Lysander etwas?«
Er zögerte unmerklich, bevor er den nächsten Schritt machte. »Gewiss.«
»Waren Sie hier, als die beiden aufgetaucht sind?«
Er zögerte. Dann nickte er, blickte aber stur nach vorne, zum Licht der Lampe. »Ja.«
»Dann haben die beiden von Ihnen erfahren, wohin mein Vater von hieraus gegangen ist.« Sie schärfte ihre Stimme wie eine Dolchklinge. »Sie spielen sich hier als sein treuer Schüler auf. Aber in Wahrheit haben Sie ihn verraten.«
Abrupt blieb er stehen, eine schlanke Gestalt unter einem Leichentuch aus Haar. Noch immer wandte er sich nicht um, stand nur da, vollkommen reglos.
»Was ist?«, fragte sie süffisant. »Warum gehen Sie nicht weiter?«
Er fuhr herum. Als sie sein Gesicht zwischen den langen Haarsträhnen sah, erkannte sie triumphierend, dass sie ihn zum ersten Mal aus der Fassung gebracht hatte. Kindisch oder nicht, sie war zufrieden.
Er betonte jede Silbe, als er antwortete: »Ich hatte keine Wahl. Sie haben mich gezwungen.«
»Ein Mann, der gerade zwei Menschen enthauptet und einem anderen die Hände abgeschnitten hat, hat sich zu etwas zwingen lassen?« Ihr Lachen war so verletzend wie eine Rasierklinge. Er hatte viel mehr verdient als nur ihren Hohn, aber im Augenblick war das ein erster kleiner Sieg.
Sein Blick fixierte sie. »Wenn die beiden gedroht hätten, mich zu töten, hätte ich das Geheimnis mit ins Grab genommen. Und ich hätte ihnen dabei ins Gesicht gelacht, verlassen Sie sich drauf! Aber das war es nicht.«
»Was dann?«
Wieder hielt er den Kopf leicht schief. »Sie sehen in mir nur einen wahnsinnigen Mörder, stimmt’s?«
»Der Gedanke ist mir gekommen.«
»Sie verdanken mir Ihr Leben.«
»Ach ja?« Er machte sie schon wieder neugierig, und sie hätte sich dafür ohrfeigen können.
»Ich habe Morgantus und Lysander einen Handel vorgeschlagen. Ich würde ihnen verraten, wo sie Nestor finden. Aber dafür mussten sie mir etwas versprechen.«
Sie starrte ihn an, während der Schein der Petroleumflamme von unten seine hageren Züge umspielte. Sie schwieg. Wartete.
»Sie mussten mir versprechen, seine Familie am Leben zu lassen. Vor allem seine Kinder.«
Sie lachte ihn aus. »Das ist doch Unsinn.«
»Ich schwöre, dass es die Wahrheit ist.«
»Sie haben weder mich noch meine Mutter gekannt. Ich war damals ein kleines Kind, fünf oder sechs Jahre alt. Meine Schwester war noch nicht einmal geboren. Welches Interesse hätten Sie schon daran haben können, ob wir leben oder sterben?«
»Interesse?« Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge.
»Hoffnung wäre das treffendere Wort.«
»Das müssen Sie erklären.«
»Sie haben selbst gesagt, dass Ihr Vater immer mehr von seinen Prinzipien abwich, je näher er dem Tod kam. Ich wusste das. Die Mädchen, die er hier im Kastell getötet hat« – ein müdes Kopfschütteln – »das waren nur Experimente. Es ging ihm um den Stein der Weisen, um die Erfüllung des Großen Werks, aber nicht um das ewige Leben. Nicht für sich selbst. Das Rätsel hat ihn gereizt, die Herausforderung, und nicht der Nutzen, den er aus der Lösung hätte ziehen können. Aber dann, ein paar Monate, bevor er Andorra verlassen hat, begann er von seiner Angst vor dem Tod zu sprechen. Von seiner eigenen Unfähigkeit, sein Sterben zu akzeptieren. Und da wurde mir klar, dass er seine eigenen Prinzipien, seine eigenen Theorien verraten würde. Ich sah ihn in einem neuen Licht, auf der einen Seite sein Genie, auf der anderen seine Schwäche. Ich war enttäuscht. Als Morgantus und
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