Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Lysander hierher kamen, fast zehn Jahre, nachdem Nestor gegangen war, war mir klar, dass Ihr Vater sich in der Zwischenzeit verändert hatte. Er hatte mir Briefe geschrieben, nichts Wichtiges, nur die eine oder andere Bitte, ihm einzelne Dinge zu schicken, die er hier zurückgelassen hatte. Und zwischen den Zeilen konnte ich lesen, wie es um ihn stand. Ich wusste, was er mit Ihnen vorhatte. Dasselbe hätte er auch mit Ihrer Mutter tun können – Sie wissen doch, dass auch sie seine Tochter war, oder?«
Sie nickte.
»Ja, das dachte ich mir«, sagte er. »Aber als Sie geboren wurden, da brannte noch ein Funken seiner alten Überzeugungen in ihm. Er ließ Ihre Mutter am Leben und tröstete sich damit, dass er immer noch die Möglichkeit hatte, Sie, Aura, nach achtzehn Jahren zu töten. Sie waren die Hintertür, die er sich offen hielt. Wenn seine Experimente in diesen achtzehn Jahren keinen anderen Weg zeigen würden, um sein Leben zu erhalten, konnte er den alten Zyklus wieder aufnehmen. Er wollte Sie schwängern und Sie nach der Geburt Ihres Kindes töten, um aus Ihrem Blut das Elixier zu gewinnen, so wie er es all die Jahrhunderte hindurch getan hatte.«
»So weit ist es nicht gekommen.«
»Ja, zum Glück. Aber ich bin abgekommen von dem, was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte. Morgantus und Lysander nahmen also meine Bedingungen an: Ich verriet ihnen, wo sie Nestor finden würden, und dafür schworen sie mir, Sie und Ihre Mutter am Leben zu lassen.«
»Aber warum?«
»Damit Sie dort weitermachen können, wo Nestor aufgehört hat. Ich habe gehofft, dass Sie sein Erbe antreten würden, Aura. Und wie Sie sehen, ist alles so gekommen, wie ich es mir gewünscht habe. Nur deshalb sind Sie hier. Sie sind eine Alchimistin geworden wie Ihr Vater, und Sie sind jung genug, um seine Forschungen zu Ende zu bringen. Und ich werde Ihnen dabei assistieren. Alles wird wieder so sein wie vor vierzig Jahren, bevor Ihr Vater von hier fortging.«
Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Glauben Sie das wirklich?«
Fuente starrte sie durch graue Hexensträhnen an, ein wenig lauernd und mit lodernder Intensität. Zum ersten Mal hatte sie Angst vor ihm, Angst davor, wozu ihn sein Wahn noch verleiten würde. »Warten Sie’s ab, Aura Institoris. Sie und ich, wir sind die rechtmäßigen Erben Ihres Vaters. Und ich bin sicher, Sie werden meine Meinung teilen, wenn Sie erst die ganze Wahrheit kennen.« Er gab ihr einen Wink und ging weiter die Treppe hinunter. »Kommen Sie mit, und Sie werden alles verstehen.«
Das Laboratorium lag am Ende der Treppe, etwa zehn Meter unter der Erdoberfläche. Sie traten durch einen halbrunden Torbogen. Fuente wanderte zielstrebig im Halbdunkel umher, entzündete Kerzen und Lampen, bis der ganze Raum von einem glühenden, goldgelben Licht erfüllt war, weihevoll wie eine Kirche an Heiligabend.
In die hohe Kuppeldecke waren Haken und Eisenketten eingelassen, zu viele, um sie zu zählen. Aura wandte angewidert den Blick davon ab und konzentrierte sich auf die Apparaturen, Tische und Regale, die ohne erkennbares System in der ganzen Halle verstreut standen. Es gab mehrere Versuchsanordnungen aus gläsernen Behältern, manche rund, andere eckig oder in Formen, die aussahen, als hätte ein verrückter Glasbläser sie ohne Sinn und Verstand geschaffen, stachelig wie Seeigel, runzelig wie Geschwüre, quallig wie Wolkenformationen. Manche hatten lange Auswüchse aus Glas und Metall, andere waren durch labyrinthische Systeme aus Rohren und Schläuchen verbunden. Auf den meisten dieser Konstruktionen lag eine fingerdicke Staubschicht, was Auras Vermutung, Fuente habe hier bis vor kurzem die Forschungen ihres Vaters fortgeführt, zuwiderlief.
Sie sah anatomische Modelle, daneben Glaskübel mit präparierten Tieren und schwammigen Organen, möglicherweise menschlichen Ursprungs. Geschwärzte, zahnlose Schädel; eine ausgestopfte Eule mit leeren Augenhöhlen; das Gebiss eines Alligators, gelb und mit Spinnweben überzogen; drei menschliche Föten; ein Riesensalamander mit geöffneter Schuppenhaut; ein geschnitzter Pelikan aus Holz, halbfertig, mit unvollendeten Beinen und Füßen; Hunderte von Flaschen mit Tinkturen in allen Farben des Regenbogens; Tiegel und Krüge, aus denen wattige Schimmelpolster wucherten; und noch ein ausgestopftes Tier, ein Rabe mit nur einem Bein.
An den Wänden hingen Tafeln mit eingeritzten Schriftzügen in lateinischer Sprache. Hic lapis est subtus te, supra te, erga te et circa te,
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