Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
einem seltsamen Unterton, und diesmal war es kein Sarkasmus. Er klang wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war und nun entsetzliche Angst vor einer Strafe hatte.
Gut, dachte sie. Das geschieht dir recht.
»Wie konntest du nur?« Sie ließ ihm nicht die Chance, ihr auszuweichen. »Das ist schlimmer, als wenn du mein Tagebuch gelesen hättest.« Ihre Blicke nagelten ihn regelrecht an die Wand, und Gnade ihm Gott, wenn er es wagen sollte, irgendetwas abzustreiten. Sie war drauf und dran, sich auf ihn zu stürzen. Das letzte Mal hatten sie sich geschlagen, als sie noch Kinder gewesen waren, acht oder neun Jahre alt.
»Ich…«, begann er, brach aber gleich wieder ab. Erwiderte nur stumm ihren Blick. Er, der Aura sonst wie aus dem Gesicht geschnitten war, hatte plötzlich nur noch wenig Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Tess stellte sich vor, dass Aura so ausgesehen haben musste, als Gillian sie damals verlassen hatte. Beschämt, getroffen und insgeheim überzeugt, aus ihrer Sicht das Richtige getan zu haben.
Gian hatte einen ähnlichen Vertrauensbruch begangen. Nicht so weitreichend, nicht von solcher Konsequenz. Aber sie wollte verdammt sein, wenn sie es mit einer Entschuldigung auf sich beruhen ließe.
»Wie oft?«, fragte sie. »Wie oft bist du nachts in mein Zimmer gekommen und hast in Nestors und Lysanders Erinnerungen herumgestöbert?« Sie schnaubte verächtlich. »Wir haben uns geschworen, es nicht mehr zu tun, Gian. Ich hab gedacht, es wären Träume. Ich dachte, ich träume all diese Dinge von Rittern und Burgen und weiß der Teufel was noch! Aber so war es nicht, oder? Es waren Erinnerungen. Du hast sie angezapft, und du hast mich dafür benutzt.«
Er versuchte nicht, es abzustreiten. »Es geht nicht ohne dich. Es funktioniert nur, wenn wir zusammen sind.«
»Du hättest mich fragen können!«
Ganz kurz blitzte Wut in seinen Augen auf. »Der Schwur war deine Idee. Was, glaubst du wohl, hättest du getan, wenn ich dich gefragt hätte? Es wäre genauso gekommen wie jetzt, und zwar bevor wir es auch nur versucht hätten.«
Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, so verletzt fühlte sie sich, so hintergangen und ausgenutzt. »Und da hast du die Dinge einfach selbst in die Hand genommen, nicht wahr? Ohne mich zu fragen, ohne meine Zustimmung. Hast Nacht für Nacht im Dunkeln neben meinem Bett gekauert und dich einfach… dich einfach von meinem Gedächtnis bedient.« Sie schüttelte den Kopf, als sie sich die Szene vorstellte. »Das ist so schäbig, Gian. Das bist doch nicht du, der das getan hat. Und ich hab gedacht, ich kenne dich.«
»Was hab ich denn schon Schlimmes gemacht? Ich hab dich nicht mal angefasst.« Jetzt klang er fast ein wenig verzweifelt, ein Kind, das jeden Moment in Tränen ausbricht. Aber natürlich würde er sich diese Blöße nicht geben, so gut kannte sie ihn.
Aber kannte sie ihn denn wirklich? Nach allem, was geschehen war, kamen ihr Zweifel.
»Ich habe dir von den Albträumen erzählt. Du wusstest, was ich in den letzten Nächten durchgemacht habe. Aber das hat dich nicht gestört, oder?«
Der Qualmgeruch wurde einen Augenblick lang stärker, dann wehte ihn der Wind davon. Wieder blökte im Dunkeln ein Kamel. Ein zweites gesellte sich dazu.
»Es… es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Gian. »Die Albträume – ich hab das nicht gewollt. Trotzdem ging es nicht anders.«
»Aber warum, Gian?«
»Nestors Vergangenheit. Sie steckt irgendwo in uns. Er war ein Alchimist, einer der mächtigsten, die je gelebt haben. Genau wie Lysander. Ihr Wissen ist irgendwo tief in uns drin. Und das alles könnte uns gehören, Tess. Begreifst du das nicht?«
»Und dann? Was hätten wir davon?« Sie erkannte, um was es ihm ging, noch bevor er es aussprechen konnte. Sie nutzte sein Schweigen, um rasch fortzufahren: »Es ist wegen Aura, stimmt’s? Sie hat sich mehr als fünfzehn Jahre mit der Alchimie beschäftigt. Und du hast gedacht, du könntest ihr überlegen sein, indem du Nestors und Lysanders Erinnerungen anzapfst. Es ging dir nur darum, sie zu übertrumpfen!«
Gian sah sie eine Weile lang an, fast ein wenig verwundert. Dann nickte er. Aber etwas in seiner Mimik sagte ihr, dass dies noch nicht die ganze Wahrheit war, auch wenn er wollte, dass sie das glaubte.
»Ja«, sagte er, und selbst seine Beschämung erschien ihr mit einem Mal gespielt, nicht echt. Nur ein Vorwand, damit sie nicht weiter fragte und ihn endlich in Ruhe ließ. »Meine Mutter hat meinen Vater
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