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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dass sie bei ihrer Rückkehr nicht der Hoteldirektor erwartet hat-te. Auf ein Wort, Mademoiselle.
    In der Nacht war sie mehrfach wach geworden, als die Nationalisten am anderen Seineufer vorübermarschierten, Schüsse in die Luft gefeuert wurden und patriotische Gesänge über das Wasser hallten. Dazwischen aber war ihr Schlaf traumlos und tief gewesen.
    Dennoch hatte sie sich beim Aufwachen wie gerädert gefühlt. Erst als sie sah, dass ihre Decke unbefleckt war und es keine Anzeichen eines weiteren Einbruchs gab, hatte sich ihre Verspannung allmählich gelöst. Ihr war immer noch schwindelig, doch nach einem Frühstück aus fettigen Croissants gab sich auch das.
    Dann aber, draußen auf der Straße, zwischen Menschen mit Transparenten, den engagierten Rednern auf der Ufermauer und den krakeelenden Zeitungsverkäufern holte sie das Gefühl wieder ein, aus der Menge heraus beobachtet zu werden.
    Verrückt.
    Du wirst verrückt.
    War da jemand, der ihr folgte? Ein Mann blickte über den Rand seiner Zeitung zu ihr herüber. Kinder zeigten im Vorbeilaufen auf sie, nein, auf einen streunenden Hund, der an einer Hauswand ein Nickerchen machte. Eine Frau rief etwas, das ihr gelten mochte, vielleicht aber auch einer anderen, die jetzt aufblickte und der Ruferin zuwinkte.
    Verrückt. Vollkommen verrückt.
    Es hatte nicht mit der blutigen Hand begonnen. Nicht einmal mit ihrer Ankunft in Paris. Auch wenn, und daran gab es keinen Zweifel, es hier schlimmer geworden war.
    Im Schloss hatte sie sich in den letzten Wochen immer öfter mit Sylvette gestritten. Bis dahin hatte Aura geglaubt, ihre Schwester spiele gerne die Rolle der Dame des Hauses. Sie führte die Dienerschaft mit einer Zielstrebigkeit, die Aura fehlte. Sylvette war perfekt darin, Aufgaben zu delegieren, mit der Köchin die Speisepläne für Wochen im Voraus zu erstellen, die Dienstmädchen aus dem Dorf bei Laune zu halten und die hochnäsigen Diener, die meist aus Berlin ins Schloss kamen, in die Schranken zu weisen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Sylvette war – trotz allem, was sie als Kind und junge Frau durchgemacht hatte – eine echte Dame geworden, feinfühlig im Um-gang mit den Angestellten, zupackend, wenn sie in der Küche gebraucht wurde.
    Nie wäre Aura auf den Gedanken gekommen, dass ihre Halbschwester tief im Herzen todunglücklich war. Und, mehr noch, dass sie selbst, Aura, die Ursache dieses Unglücks war.
    Im Grunde lief es auf eines hinaus: Neid. Sylvette beneidete Aura um die Freiheiten, die sie sich nahm, während die Verantwortung für das Schloss auf den Schultern ihrer jüngeren Schwester lastete. Und sie beneidete sie um ihre Reisen quer durch Europa, auch wenn Sylvette nie großes Interesse an anderen Ländern gezeigt hatte. Sie beneidete sie um das Wissen, das sie sich in siebzehn Jahren im Laboratorium und der Bibliothek ihres Vaters angeeignet hatte; nicht so sehr um ihre Kenntnisse alchimistischer Zusammenhänge – nichts hätte Sylvette ferner liegen können –, sondern um ihre Allgemeinbildung, ihr Schulwissen, ihr Gefühl für andere Sprachen. Mehrfach hatte Aura ihre Schwester mit Büchern in der Bibliothek ertappt, mit Lexika und Nachschlagewerken über Natur, Kultur und Geschichte, mit Sprachlehrbüchern, Dramen und Poesie. Doch das änderte nichts daran, dass Sylvette sich Aura unterlegen fühlte, mochte sich auch noch so oft zeigen, dass sie diejenige war, die den Misslichkeiten des Alltags gewachsen war, während Aura sich lieber im Dachgarten verschanzte und die wundersame Pflanzenwelt studierte, die ihr Vater in dem riesigen Gewächshaus kultiviert hatte.
    Sie hatten über all das miteinander geredet. Meist aber endeten solche Gespräche damit, dass Sylvette sich trotzig auf den Standpunkt stellte, Aura sei ihr intellektuell überlegen. Es sei unmöglich, mit ihr über diese Dinge zu sprechen, behauptete sie. Aura könne sie nicht verstehen, und, sei doch ehrlich, eigentlich hätte sie es auch niemals ernsthaft versucht.
    Nur um eines beneidete Sylvette Aura nicht im Geringsten. Sie hat-te, ebenso wie Gillian, die Unsterblichkeit abgelehnt, als Aura sie ihr anbot. Danach hatte sie nie wieder ein Wort darüber verloren. Aura kannte die Wahrheit: Sylvette hatte als Kind erlebt, was eine jahrhundertelange Existenz aus anderen gemacht hatte, aus ihrem Vater Lysander und dessen Meister Morgantus.
    Aura fragte sich, ob Sylvette trotz ihrer Minderwertigkeitskomplexe nicht doch die Klügere von ihnen beiden war. Immerhin hatte

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