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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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angemessen schmerzhaft, damit Sie den Weg dorthin zu schätzen wissen.«
    Er lachte leise und schloss mit seinem Pferd zu ihr auf. Im Sonnenlicht wirkte er weniger bedrohlich, ein großer Mann, der sich für sein Alter gut gehalten hatte. Seine kräftigen Hände hielten die Zügel wie ein Galeerensklave sein Ruder. Das lange Haar hatte er wieder zusammengebunden und unter seinen Mantel geschoben.
    »Was werden Sie tun, wenn ich Ihre Fesseln durchschneide?«, fragte er. »Sie umbringen?«
    Wieder lachte er. »Bevor Sie das tun, sollten Sie sich darüber klar werden, dass ich der Einzige bin, der weiß, wo Ihr Sohn gefangen gehalten wird.«
    Die Erinnerung an das Foto traf sie wie ein Hieb. Eine Weile konnte sie an nichts anderes denken als an Gian. An die gebogene Klinge unter seinem Kinn. »Wo haben Sie ihn hingebracht?«
    Er sah sie aus aufgerissenen Augen an. »Ich?«
    »Hören Sie schon auf, Fuente! Ich weiß, dass Sie…«
    »Nein«, unterbrach er sie mit Bestimmtheit, »Sie irren sich. Mit der Entführung habe ich nichts zu tun.«
    Sie glaubte ihm nicht, sah aber ein, dass es keinen Sinn hatte, zu widersprechen. »Was ist mit Tess?«
    »Ihrer Nichte?«
    »Sie muss bei Gian gewesen sein.«
    »Vielleicht ist sie das noch immer.« Sie atmete tief durch. »Sind Sie sicher?«
    »Ja«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ja, ich denke schon.«
    Er sah sie noch einen Moment länger an, dann schlug er den Mantel über seinem Bein zurück und enthüllte ein Messer, das in einer Scheide seitlich an seinem Oberschenkel befestigt war. Es war so lang wie Auras Unterarm. Als er die Klinge hervorzog, spiegelte sich das tiefe Blau über den Gipfeln darin; es sah aus, als hielte er ein Stück Himmel in der Hand. Allmächtiger, dachte sie, so viel wirres Zeug. Die Nachwirkungen der Chemikalie tobten noch immer in ihrem Kopf.
    Sie widerstand dem Reflex, die Augen zu schließen, als er mit dem Messer ausholte. Eisern starrte sie ihn an. Dann aber ließ er die Klinge so rasch und gezielt über das Seil zucken, dass sie die eigentliche Bewegung kaum wahrnahm. Sie spürte nur, wie Teile des Stricks von ihr abglitten. Plötzlich konnte sie sich im Sattel aufrichten. Ihre verkrampften Muskelpartien taten weh, viel schlimmer, als sie befürchtet hatte, aber sie gab sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.
    »Danke«, sagte sie kühl.
    »Freuen Sie sich nicht zu früh.« Mit einem Lächeln schob er das Messer wieder in die Scheide.
    Sie folgte seinem Blick und erkannte, was er meinte. Um ihre Fußgelenke lagen schmale Schellen aus Stahl, die unter dem Bauch des Pferdes mit einer dünnen Kette verbunden waren, gerade locker ge-nug, dass das Tier sich nicht daran wund scheuerte.
    »Sehr schlau.«
    »Nur eine Absicherung, bis Sie Vernunft annehmen.« Im Tageslicht ließ ihn sein Lächeln jünger erscheinen, beinahe lausbübisch. Hatte er so gelächelt, als er Myléne in ihrem Bett ermordet hatte?
    »Was haben Sie jetzt vor?«
    »Ich bringe Sie zu Ihrem Sohn.«
    »Ist das Ihr Ernst?«
    »Und zum Verbum Dimissum.«
    »Aber…«
    »Ich sage es Ihnen noch einmal, Aura. Ich habe mit dieser Fotografie nichts zu tun. Sie lag in Ihrem Fach im Hotel, ich habe sie mir nur geben lassen. Um ehrlich zu sein, war ich ziemlich erleichtert, als mir klar wurde, dass Sie sie noch nicht gesehen hatten. Diese… Überraschung, die da jemand für Sie vorbereitet hat, hätte fast meine gan-zen Pläne durcheinander gebracht.«
    Mit einem tiefen Durchatmen löste sie ihren Blick von ihm und schaute hinab in das langgestreckte Tal. Viele hundert Meter unter ihnen war der Boden dicht bewaldet, von hier oben sahen die Bäume aus wie ein dunkler Moosteppich. Darüber wuchsen die Hänge empor, idyllische Bergwiesen, immer wieder unterbrochen von hellen Felsgraten, Klüften und monolithischen Gesteinsformationen. Vor einem ozeanisch blauen Himmel setzten sich scharf und kantig die weißgrauen Gipfel ab. Ein wildes, zauberhaftes Land, und seine Schönheit brannte ihr noch tiefer ins Gedächtnis, in was für einer erbärmlichen Lage sie sich befand.
    »Ich will es Ihnen erklären, Aura. Aber Sie müssen mir auch zuhören und nicht die Trotzige spielen. Das passt nicht zu Ihnen.«
    »Zu mir oder zu dem Bild, das Sie von meinem Vater haben?«
    Grinsend winkte er ab, als wäre er überzeugt, dass sie ihn früher oder später schon verstehen und sich auf seine Seite schlagen würde. »Ich habe die Fotografie und den Brief Ihrer Schwester in Ihre Satteltasche gesteckt, heute

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