Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Kein Hinhalten mehr und keine Geschichten. Sie tun, was ich sage, sonst verpasse ich Ihnen die Kugel, die Sie längst verdient hätten. Haben Sie das verstanden?«
Er blickte zu ihr auf, mit schmerzverzerrten Zügen, aber gefasst. Er nickte. Plötzlich war nicht mehr die geringste Spur von Aufbegehren in seinen Augen, und da begriff sie, dass ihr Vater genauso mit ihm umgesprungen war. Fuente erwartete von ihr Strenge, Grausamkeit und Zorn. Sein eigener Wutausbruch vorhin war nur eine Imitation ihres Vaters gewesen, Schmierentheater für sich selbst, für Aura, vielleicht sogar für Nestor irgendwo in der Hölle.
Die Erkenntnis machte ihr Angst. Gemeinsam waren sie tatsächlich so etwas wie eine Schablone ihres Vaters. Ihr wurde übel, und plötzlich saß ein fester Knoten in ihrer Kehle. Das Sprechen fiel ihr schwer.
»Der Brief!«, sagte sie mühsam.
Er gab ihn ihr, ein fester Umschlag aus dickem Papier, mit einem aufgebrochenen Siegel, das sie nie zuvor gesehen hatte. Ein fliegender Adler über einem Fass.
Sie machte drei Schritte rückwärts und sah zu, wie Fuente sich schweigend mit beiden Händen an einer Tischkante hochstemmte. Dann stand er ihr wieder gegenüber, gerade aufgerichtet, mit Augen wie aus schwarzem Glas.
»Schauen Sie hinein«, sagte er.
Sie griff mit zwei Fingern in den offenen Umschlag und ertastete eine festes Stück Pappe. Als sie es hervorzog, sah sie, dass es sich um eine Fotografie handelte.
Es war ein Bild von Gian, vom Gürtel an aufwärts. Er stand vor einem Gebäude, leicht verschwommen im Hintergrund, aber klar ge-nug, um zu erkennen, dass es sich um ein mittelalterliches Anwesen handelte.
Eine gebogene Klinge lag an Gians Kehle. Die Hand, die sie hielt, ragte von links ins Bild. Finger in schwarzen Handschuhen.
Gian blickte starr in die Kamera. Starr auf Aura. Starr in ihre Au-gen.
Das Bild wurde verschwommen, und Hitze stieg in ihr auf, floss lodernd über ihre Wangen.
Bild und Revolver zitterten in ihren Händen, als sie ihren Blick von Gian löste, von der Klinge an seinem Hals.
Sie sah auf, sah Fuente.
Sah ihn auf sich zukommen, sah seine Faust und das Tuch, das sie hielt. Roch den scharfen Geruch einer Chemikalie.
Sah beides näher kommen, roch beißende Säure – und sah nichts mehr.
Nur Gians Augen, deren Lider sich langsam schlossen.
Das Pochen ihres Herzens. Das Rauschen des Bluts in ihren Adern.
Ein brennender Schmerz beim Einatmen durch die Nase, wo sich das Betäubungsmittel in ihre Schleimhäute geätzt hatte. Und ein Hämmern in ihrem Kopf, als bearbeite ein Schmied ihren Schädel auf einem Amboss.
Aura öffnete langsam die Augen – und schloss sie sogleich wieder, überwältigt von gleißender Helligkeit. Flammen tanzten über ihre Netzhaut, zogen glühende Schlieren auf der Innenseite ihrer Lider. Sie wartete, dann wagte sie einen neuen Versuch. Langsamer dies-mal. Sie wusste auch so, was sie sehen würde. Sie spürte es längst unter sich. Zwischen ihren Beinen.
Sie saß im Sattel ihres Pferdes, weit vorgebeugt und gefesselt. Ihre linke Wange war an die Mähne gepresst. Den würzigen Duft des Fells nahm sie kaum wahr, ihre Nasenflügel erholten sich noch immer von den Nachwirkungen der scharfen Substanz, mit der Fuente sie betäubt hatte. Gott, sie hätte ihn gleich erschießen sollen, als ihr klar geworden war, wer er war und was er wollte.
Mehrere Stricke hielten sie fest im Sattel, aber nur einer tat wirklich weh. Er verlief über ihren Rücken und hielt sie vornüber gebeugt. Bei jedem Schritt des Pferdes scheuerte er über ihren Körper, heftig ge-nug, dass sie es sogar durch die Kleidung spürte. Sie hatte Rückenschmerzen und wusste, dass sie noch viel stärker werden würden, sollte sie versuchen, sich wieder aufzurichten.
Das Pferd folgte einem schmalen Weg, der sich an einer Felswand entlangschlängelte. Links fiel der Hang steil ab und öffnete den Blick auf ein Bergpanorama, das ihr zu einem besseren Zeitpunkt den Atem geraubt hätte. Im Augenblick aber kostete sie das Luftholen zu viel Mühe, um es so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Jeder Atemzug schien ihre Nasenflügel wie Rasierklingen aufzuschlitzen. Sie konnte nur hoffen, dass Fuentes Mittel keine bleibenden Schäden angerichtet hatte. Ein Grund mehr, ihn zu töten.
»Ah«, hörte sie seine Stimme hinter sich. »Sie sind wach.«
»Gehen Sie zur Hölle!«, stöhnte sie.
»Wer sagt denn, dass wir dort nicht noch früh genug ankommen?«
»Ich hoffe, Sie verrecken
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