Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
hören, hinter sich in der Ferne. Fuente blickte sich nicht um.
Noch einmal schob sie die Hand in die rechte Satteltasche. Ihre Finger umfassten den Griff der Waffe, berührten den Abzug.
Und wenn da noch jemand ist? Jemand, der uns folgt? Unsinn.
Jemand, der beobachtet hatte, wie Fuente die Taschen kontrollierte, und der die Waffe danach hineingesteckt hatte, als Fuente zurück ins Laboratorium gegangen war, um sie zu holen?
Wieder blickte sie sich um und sah niemanden.
Vielleicht spielte Fuente nur mit ihr. Ein Spiel aus Provokationen und falschen Hoffnungen. Erschießen Sie mich, und Sie werden schon sehen, was aus Ihrem Sohn wird…
Sie schloss die Augen, dachte nach, öffnete sie wieder. Sah Fuente scheinbar arglos ein paar Meter vor sich. Er summte leise ein Lied.
Sie schob die Waffe tiefer zwischen Kleidungsstücke und Papier. Festes Papier. Die Fotografie, das Bild von Gian. Sie schüttelte den Gedanken ab, die Angst, die Verzweiflung. Zumindest für den Moment.
Ihre andere Hand kroch in die linke Satteltasche, unendlich vorsichtig.
Da war etwas. Etwas Glattes.
Sie schlug das Leder zurück und schaute hinein.
Zwei leere, schwarze Augen starrten sie an. Kein Gesicht, nur glasiertes Papier. Eine blutrote Maske ohne Gesichtszüge.
Und darauf, mit schwarzer Tinte, der Abdruck einer Katzenpfote.
KAPITEL 17
Tess betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, blasse Haut und schmale Wangen, leicht eingefallen, nicht ausgehungert, aber ausgezehrt von den Strapazen der Reise. Sie verengte ihre Augen, die Schärfe verlagerte sich, ihr Gesicht verschwamm, und sie blickte durch die Scheibe hinab in den Hof.
Gian war dort unten. Er überquerte den Hof an der Seite eines Mannes, den sie nicht kannte, viel älter als diejenigen, die sie hergebracht hatten, den weiten Weg von Persien bis nach Spanien. Der Mann redete auf Gian ein. Er trug einen leichten Mantel, der im Wind flatterte. Sein Haar war, soweit sie sehen konnte, weiß oder hell-blond.
Die beiden verschwanden unterhalb ihres Fensters, der Mann immer noch redend, Gian still und mit maskenhaften Zügen.
Ich habe ihn verloren, dachte sie. Ich habe ihn endgültig verloren.
Sie hatte es geahnt, schon damals in der Wüste, als sie begriffen hatte, dass er nachts heimlich in ihrer gemeinsamen Erinnerung gestöbert hatte. In Nestors Erinnerung, Lysanders Erinnerung. Er hatte sie ausgenutzt und, viel schlimmer, belogen. Er hatte ihren gemeinsamen Schwur gebrochen.
Während der ganzen Tage, die sie in der Gewalt ihrer Entführer war, hatte sie sich die Ereignisse wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen, nach Schwachstellen in ihrer eigenen Argumentation gesucht, nach Fehlern in ihren Beobachtungen. Aber es gab keinen Zweifel an Gians Schuld. Sie mochte es drehen und wenden, wie sie wollte, es änderte nichts an den Tatsachen: Gian steckte mit ihren Entführern unter einer Decke.
Sie wusste nicht, wie sie ihn dazu überredet hatten, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, und sie wollte, bei Gott, nicht wahrhaben, dass er vielleicht sogar gewusst hatte, was mit den Menschen auf der Ausgrabungsstätte passieren würde – nein, das konnte nicht sein! –, aber er war ihr Verbündeter, daran gab es nichts zu rütteln. Er bewegte sich frei zwischen ihnen, und eben war es nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihn seit ihrer Ankunft hier im Waisenhaus mit dem Mann im Mantel gesehen hatte.
Ein Waisenhaus…
Anfangs war sie nicht sicher gewesen. Aber dann hatte man sie aus einem fensterlosen Raum in dieses Zimmer verlegt. Jetzt sah sie regelmäßig spielende Kinder unten im Hof, beobachtete, wie manche am Morgen von Erwachsenen geholt und am Abend zurückgebracht wurden, und wie andere, die Älteren, schmutzig und müde von der Arbeit zurückkehrten. Kein schlechter Ort, um eine Fünfzehnjährige zu verstecken. Gewiss kam es immer wieder vor, dass Kinder hier tobten, aus den Fenstern brüllten oder ruhig gestellt werden mussten.
Von einem schweigsamen Mädchen, das ihr dreimal am Tag erstaunlich üppige Mahlzeiten brachte, hatte sie den Namen der Stadt erfahren. »Soria«, hatte es geflüstert, so als fürchtete es, schon zu viel gesagt zu haben und dafür bestraft zu werden. Dann war es rasch verschwunden.
Tess hatte den Namen nie zuvor gehört. Da sie aber nach Verlassen des Schiffes beständig ins Landesinnere gereist waren, nahm sie an, dass sie sich irgendwo in Zentralspanien befanden. Aber sicher war sie nicht.
Ein Schlüssel knirschte im
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