Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Türschloss, dann klopfte jemand zaghaft an. Ihr Puls überschlug sich fast, als Gian durch den Spalt hereinblickte.
»Darf ich reinkommen?«
»Als ob ich eine Wahl hätte«, gab sie ätzend zurück.
Er trat ein und drückte die Tür hinter sich zu. Ganz kurz konnte sie einen Blick in den Korridor werfen. Da war niemand, auch nicht der ältere Mann. Gian war allein gekommen.
»Ich hatte Angst«, sagte er, ohne sie anzusehen. Sie lachte ihn aus. »Vor mir? Hier drinnen?«
»Davor, mit dir zu sprechen… Deine Fragen zu beantworten.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, halb in der Erwartung, dass er zurückweichen würde, so beschämt wirkte er. Doch Gian blieb ste-hen, noch immer mit gesenktem Blick.
»Was soll das alles?«, fragte sie leise. »Gian, was tun wir hier? Was tust du hier?«
Er wartete einen Augenblick zu lange mit einer Antwort, denn plötzlich hatte sie sich nicht länger unter Kontrolle, sprang auf ihn zu und versetzte ihm eine Ohrfeige, die ihn zurücktaumeln ließ wie einen getretenen Straßenköter. Ihre Hand brannte, ihr Arm tat weh, aber sie holte trotzdem aus und verpasste ihm einen zweiten Schlag, der ihn fast in die Knie gehen ließ.
Er versuchte nicht, sich zur Wehr zu setzen, rieb sich die feuchten Augen und wollte nach der Türklinke greifen.
»Du kommst her und schaust mir nicht mal in die Augen«, sagte sie. »Nicht mal das.«
Seine Hand verharrte, dann wandte er sich wieder zu Tess um. Seine Augen waren rot und glänzten. Er versuchte jetzt nicht mehr zu verbergen, dass er weinte.
Sie spürte, dass ihr selbst Tränen über die Wangen liefen, und sie hasste sich dafür. Wenn sie eines nicht wollte, dann ganz bestimmt nicht, dass Gian und sie sich schluchzend in die Arme fielen und er ihr sagen würde, alles sei gar nicht so schlimm, wie es scheine.
Sicherheitshalber wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Gitter stieß, das von innen am Fenster angebracht war. Keine Berührung. Keine geschwisterlichen Gesten, nicht jetzt.
»Sie sind alle tot, nicht wahr?« Sie starrte ihn durchdringend an. »Die Goldsteins und die Arbeiter in Uruk. Sie haben alle ermordet.«
Sie hatte erwartet, dass er es leugnen würde, doch zu ihrer Überraschung nickte er. Sie war zu erschüttert, um sich über seine Offenheit zu wundern. »Ja«, sagte er. Ein Wort. Zwei Buchstaben. Drei Dutzend Tote.
»Ich verstehe das nicht.« Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf. Ihr war schwindelig, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Wie konntest du das zulassen? Ich meine… Gian… ich hab gedacht, ich kenne dich. Das hab ich immer gedacht.«
Sie spürte, wie ihre Stimme versagte, und bevor es mitten im Wort passieren konnte – kein Zeichen von Schwäche, jetzt nur kein Zeichen von Schwäche –, verstummte sie und wartete, dass er etwas sagte. Irgendetwas.
Er schluckte, hielt ihrem Blick aber stand. »Wenn ich sage, dass ich nichts davon gewusst habe, würdest du mir dann glauben?«
Sie schwieg, und er deutete es richtig. »Hat es dann überhaupt einen Zweck, dass ich mich verteidige?«, fragte er.
»Wie willst du so etwas verteidigen?« Sie hörte sich selbst immer lauter werden, bis sie ihn anschrie: »Wie kannst du auch nur auf die Idee kommen, dass irgendetwas diese Morde rechtfertigen könnte?«
»Ich wusste nicht, dass Menschen sterben würden. Sie haben mir gesagt, dass sie mich nach Spanien bringen würden. Das war alles. Mehr hab ich nicht gewusst. Das musst du mir glauben.«
»Du kannst dich frei bewegen. Du sprichst mit ihnen. Und ich soll dir glauben, dass sie dich nicht eingeweiht haben?«
»Es ist die Wahrheit, Tess. Das schwöre ich dir.«
Sie trat vor, um ihn abermals zu schlagen, beherrschte sich aber im letzten Augenblick. »Du schwörst! Verdammt, Gian, du solltest dir selbst mal zuhören müssen! Dein letzter Schwur war einen Dreck wert.« Sie funkelte ihn an, bis er den Blick abermals senkte, ganz kurz nur. »Du hast geschworen, Nestors und Lysanders Erinnerung ruhen zu lassen. Das hast du geschworen! Und das Nächste, was ich weiß, ist, dass du…« Tränen erstickten erneut ihre Stimme. Sie ließ sich auf die Bettkante sinken, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Es war jetzt egal, ob er im Zimmer war oder nicht.
Er setzte sich neben sie, einen halben Meter entfernt, und sie hörte an seinem Tonfall, dass auch er weinte. Aber er wagte nicht, näher zu kommen und sie in den Arm zu nehmen, so wie er es früher getan hätte, noch vor
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