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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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trat. Wenn er mich anfasst, bringe ich ihn um.
    Aber er berührte sie nicht, obwohl sie seinen Atem spürte, so nah stand er hinter ihr. »Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Alles tut mir Leid. Aber es ist zu spät, um jetzt noch etwas daran zu ändern.«
    Seine Schritte entfernten sich Richtung Tür. »Viel zu spät«, flüsterte er.
    Die Klinke knirschte, dann wurde von außen der Schlüssel gedreht.
    Tess sah wieder ihr Spiegelbild vor dem Fenstergitter an und erkannte sich nicht wieder.
    Auf Auras Reise nach Andorra hatte die französische Seite der Pyrenäen sie mit engen Schluchten und grauem Fels müde und schwermütig gemacht. Die Landschaft aber, durch die Aura und Fuente jetzt ritten, hätte sich kaum stärker davon unterscheiden können. Vor ihnen erstreckten sich die Ausläufer der Berge bis weit nach Spanien hinein, lange, weite Täler und sanfte Hänge, Bergkämme wie abgeschliffen von den Zeitaltern, Hügel wie auf sepiagetönten Fotografien, hellbraun und gelb unter der sengenden Sonne. Auch die Wälder aus Buchen und Eichen, so typisch für die Pyrenäen, blieben zurück und wichen neuen, nicht weniger beeindruckenden Panoramen.
    Vor fünf Tagen, in einem verlassenen Gebirgsdorf, in dem sie Unterschlupf vor einem Sturm gesucht hatten, hatte Fuente ihr endlich die Kette abgenommen. Sie glaubte nicht, dass er ihr wirklich vertraute; vermutlich war er es eher leid, sie beim Austreten wie ein Haustier an der Leine zu führen. Es war erniedrigend für sie beide gewesen, obwohl sie den Eindruck hatte, dass es ihm beinahe mehr ausgemacht hatte als ihr selbst.
    Nicht einmal hatte er in ihre Satteltaschen geschaut, und er verriet durch nichts, dass er etwas von ihrem Verfolger ahnte. Aura hatte die Maske des Chevalier in einen Felsspalt geworfen, aber die Pistole war noch immer dort, wo ihr geheimer Schutzengel sie hingesteckt hatte, auf dem Grund ihrer rechten Satteltasche. Mehr als einmal war sie versucht gewesen, Fuente damit das Geheimnis von Gians Aufenthaltsort zu entreißen. Aber eine innere Stimme sagte ihr, dass sie mit Gewalt bei ihm nichts erreichen würde. Sein Leben lang hatte er daraufhin gearbeitet, den Gralskelch der Katharer und das Verbum Dimissum zu finden, und er würde eher von ihrer Hand sterben, als dieses Ziel aufzugeben.
    Also tat sie weiterhin so, als wäre sie seine Gefangene, auch wenn er durchaus bemüht war, ihr nicht dieses Gefühl zu geben. Seine Überzeugung, sie sei so etwas wie der wiedergeborene Nestor, war felsenfest, ganz gleich, was sie ihm an den Kopf warf oder wie oft auch immer sie ihm sagte, dass ihr das Verbum und alles, wozu es sie befähigen mochte, gleichgültig waren. Möglicherweise wäre es vernünftiger gewesen, sich bei ihm einzuschmeicheln und ihn in dem Glauben zu bestärken, sie werde früher oder später seine Verbündete sein. Doch nicht einmal das brachte sie über sich. Sie verabscheute ihn mit jeder Faser ihres Körpers, jedem Gedanken, jedem Wort, das sie über ihre Lippen zwang. Er würde sie nicht dazu bringen, ihn anzuflehen, nicht so lange sie eine Möglichkeit sah, Gian zu befreien und Fuente anschließend den Hals umzudrehen.
    Die allerwenigsten Gedanken machte sie sich über den Chevalier. Sie sah und hörte nichts von ihm, und doch war sie sicher, dass er irgendwo hinter ihnen ritt, ein, zwei Kilometer entfernt. Sie konnte ihn spüren, und es verwirrte sie, dass sie dabei immer wieder an die Ballnacht im Palais denken musste.
    In den Nächten, in Höhlen oder auch im Freien auf klammen Bergwiesen versuchte sie, auf eigene Faust die Visionen der Schwarzen Isis in sich heraufzubeschwören. Aber ein ums andere Mal musste sie erkennen, dass es ihr ohne die Hilfe der Zwillinge nicht gelingen würde. Im Zug hatten die beiden sie überreden wollen, es weiter zu versuchen, doch sie hatte abgelehnt. Jetzt aber, allein mit Fuente in der Weite dieser Berge, wünschte sie sich, sie hätte es getan. Doch all ihr Bedauern war sinnlos. Die Träume der Schwarzen Isis blieben verschollen, ebenso wie die Bilder jenes Kindes mit Gians Zügen, das die unheimliche Erscheinung geboren hatte.
    Schließlich erreichten sie an einem Abend die Stadt Huesca und quartierten sich in einem verfallenen Schuppen am Ortsrand ein. Eines ihrer Pferde war verletzt, das andere völlig erschöpft; Fuente musste ihnen frische Tiere beschaffen. Er dachte jedoch nicht daran, Aura während dieser Zeit frei herumlaufen zu lassen. Er zog die Kette hervor und schloss eine Schelle um

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